Ubisofts neues "Assassin's Creed Shadows" für PlayStation 5, Xbox Series X|S und PC entführt die Spieler in das feudale Japan des späten 16. Jahrhunderts, genauer gesagt in die Azuchi-Momoyama-Zeit. Diese Ära ist bekannt für ihre politischen Umwälzungen, Bürgerkriege und die Vereinigung Japans unter Oda Nobunaga und Toyotomi Hideyoshi. Das Spiel bietet eine sehr überraschende und authentische sowie detailreiche Darstellung dieser historischen Periode, inklusive der Architektur, der Kultur und auch der politischen Landschaft der damaligen Zeit. Altes Setting, neuer Ansatz: Am Weg in die Vergangenheit entledigt man sich vieler Altlasten.
Gewählt wird nun nicht nur zwischen zwei Spielfiguren, sondern zwischen zwei Spielstilen. Wer sich für die kleinere und flinkere Naoe entscheidet, steuert eine Shinobi-Assassinin durch das Abenteuer, die auf Stealth, Agilität und den Einsatz von Ninjawerkzeugen spezialisiert ist. Frontal und manchmal mit der Brechstange agiert man dagegen mit dem beeindruckend großen Yasuke, einem historisch belegten afrikanischen Samurai, der als Oda Nobunagas Gefolgsmann diente. Er verkörpert den kraftvollen, direkten Kampfstil mit Samurai-Waffen. Die Spieler können je nach Mission und persönlichem Spielstil zwischen den Figuren wechseln.
Die Entwickler haben umfangreiche Recherchen betrieben, um die Architektur, Kleidung, Waffen und Bräuche des feudalen Japans authentisch wiederzugeben, das kann sich sehen lassen. Auch die offene Spielwelt weiß zu gefallen. "Assassin's Creed Shadows" führt ein System dynamischer Jahreszeiten ein, das sich auf das Gameplay auswirkt. Schnee kann zum Beispiel Spuren hinterlassen, die von Gegnern verfolgt werden können, während dichter Nebel die Sicht einschränkt und Stealth-Möglichkeiten verbessert. Das Spiel legt großen Wert auf Stealth, insbesondere mit Naoe. Gleichzeitig bietet es ein tiefgehendes Kampfsystem für Yasuke.
Die Spieler können eine offene Spielwelt erkunden, die von historischen Schauplätzen inspiriert ist. Typisch "Assassin's Creed" ist diese Welt reich an Details, Geheimnissen und auch vielen Nebenmissionen. Diese drängen sich aber nicht wie in vergangenen Games der Reihe förmlich mit Markern und Hinweisen auf, sondern man stößt nun viel natürlicher auf sie – oder kann sie in den meisten Fällen auch einfach ignorieren. Ubisoft legte in "Shadows" vielmehr großen Wert auf historische Genauigkeit und hat Berater hinzugezogen, um sicherzustellen, dass das Spiel ein authentisches Bild des feudalen Japans vermittelt, statt ein Quest-Sammelplatz zu sein.
Die Geschichte von "Shadows" ist indes an die Realität angelegt und spielt in dem zerrissenen Japan, das Oda Nobunaga als einer von vielen Kriegsherren auch mit Gewalt zu vereinigen versucht. Während sich der Protagonist Yasuke an der Seite von Nobunaga befindet, ist Naoe anfangs eines der Opfer von Nobunagas Truppen. Aus brutalen Auftaktereignissen startet dann eine Erzählung, die nur Naoe in den Mittelpunkt stellt – zum Samurai Yasuke wechseln kann man überraschend erst nach rund zehn Spielstunden. Egal, welche Seite man danach wählt oder zwischen den Figuren wechselt, gleichberechtigt sind sie erzählerisch jedenfalls nicht.
Die Erzählung fokussiert eindeutig auf Naoes Schicksal, stellt diese Geschehnisse schön ins Rampenlicht. Yasukes Blickwinkel wird zwar immer mal wieder aufgegriffen, seine Motive und sein Schicksal sind aber nie bestimmende Elemente der Erzählung. Von dem Rest der Geschehnisse lässt sich indes nicht viel mehr verraten, ohne die Handlung vorwegzunehmen. Verraten werden kann aber: Wer die Vorgänger kennt, kennt auch das Konzept von "Shadows". Schade, denn die Story ist es nicht, wie glänzt, wenngleich sie mit tollen, actionreichen Video-Sequenzen und beeindruckenden Motion-Capturing-Animationen schöner denn je gezeigt wird.
Was die Story an Wünschen offenlässt, kann zum Glück das Gameplay übererfüllen, denn nur diesen Aspekt betrachtet, handelt es sich um das beste "Assassin's Creed" aller Zeiten. Anders als bisher hat man weder einen einzigen, fix vorgegebenen Charakter, noch eine wählbare Figur, die dann allerdings nichts an Geschehnissen und Gameplay ändert – sondern das Beste zweier Welten! Yasuke lässt sich mit mehreren schweren Waffen wie Schwert oder Streitkolben ausrüsten und damit personalisieren. Der Samurau spielt sich direkt – statt Verstecken und Schleichen kommt es mit ihm auf hartes Zuschlagen und das Parieren von Gegenangriffen an.
Fernkampf liegt Yasuke aber nicht gänzlich fern, denn der Hühne kann weiter entfernte Feinde mit Pfeil und Bogen ausschalten. Das Gameplay mit Yasuke geht schnell ins Blut über: Er bietet leichte und schwere Angriffe, Ausweich- und Parier-Möglichkeiten sowie je nach eingesetzter Waffe freischaltbare Spezialfähigkeiten. Alles in allem ein leicht zu verstehendes System, das wenig Überraschungen bietet, aber viel Spaß macht. Komplexer wird es dagegen mit Naoe, in deren Möglichkeiten man sich erst einarbeiten muss. Zwar kann die Shinobi Waffen wie Katana und Kusarigama im Nahkampf einsetzen, das Ziel ist es aber, möglichst unsichtbar zu bleiben.
Während man in Dörfern und Außenposten mit Yasuke zwei, drei Feinde mit Pfeil und Bogen ausschaltet und sich dann ins Kampfgetümmel stürzt, kann man mit Naoe und geschickter Planung sowie Geduld auch vollkommen unerkannt durch die Gegnerreihen schleichen. Anders als bisher ist aber wirklich genaues Beobachten notwendig, denn erstmals ist die Künstliche Intelligenz der Feinde brandgefährlich. Sie drehen sich nach leisestem Blätterrascheln oder Schritten aus Holzdielen um und blicken auch regelmäßig in den Himmel statt nur stur vor sich her. Naoe aber bewegt sich blitzschnell per Greifhaken oder taucht mit einem Atemrohr ab.
Verzichten muss man indes auf ein Markenzeichen der Reihe, den Adler. Statt über Einsatzorte zu fliegen und Gegner per Adlerblick zu markieren, müssen die Spielfiguren ihre Feinde selbst finden und markieren. Ebenfalls ganz neu ist, dass es auch bei der Fortbewegung logische Unterschiede zwischen Yasuke und Naoe gibt. Der schwere und große Samurai kann nur begrenzt auf Dächer klettern, dafür schwerer Objekte wie Kisten und Behälter tragen. Naoe wiederum kann auch sehr hohe Ebenen von Gebäuden erreichen und sich flinker bewegen, was bei der Flucht helfen kann – tut sich aber schwerer damit, Objekte der Welt als Fallen zu nutzen.
Klingen in Oberkörper, Hälse, Köpfe – "Assassin's Creed Shadows" bietet nicht nur die meisten, sondern auch brutalst-spektakulären Attentate der Spiele-Reihe. Auch bei ihnen kommt eine neue Mechanik zum Einsatz: mehrteilige Lebensleisten der Feinde. Das bedeutet, dass ein Attentat nicht gleich den Tod des Feindes bedeutet, denn um alle Teile der Leiste auf einmal zu leeren und damit den Gegner zu töten, müssen erst die entsprechenden Skills freigeschaltet oder hochgelevelt werden – und es muss die mit verschiedenen Effekten versehene Rüstung des Charakters passen. Wer lieber schnell killen will, findet die Option aber in den Einstellungen.
Bei den Fähigkeiten verfügen Naoe und Yasuke jeweils über sechs individuelle Talentbäume, in die man Meisterschaftspunkte verteilen darf, die es für abgeschlossene Missionen und auch Stufenaufstiege gibt. Rüstungen in verschiedenen Qualitätsstufen und Items gibt es wiederum bei besiegten Gegnern und in Truhen in der Spielwelt. Komplex: Getragene Ausrüstung muss immer wieder an die gestiegene Charakterstufe angepasst und die hochwertigsten Teile können in einer Schmiede noch mit Bonuseffekten aufgewertet werden. Neben der Schmiede gibt es noch eine Handvoll weiterer Gebäude im Protagonisten-Versteck, die für Boni sorgen.
Die Gebäude lassen sich sehr beschränkt ausbauen, um die Boni zu erhöhen, eine Bau-Sim wird das Rollenspiel aber sicher nicht. Beeindruckend ist allerdings die Zahl an Dekorations-Designs, die ausschließlich optische Zwecke haben. Apropos optische Zwecke: Auf sie zurückgefahren hat Ubisoft die traditionelle Gegenwartsgeschichte, die fast jedes "Assassin's Creed" bevölkert. Die Animus-Szenen nehmen nur einen verschwindend geringen Teil des Spiels ein und hätten ruhig ganz weggelassen werden können, spielbare Gegenwartsszenen gibt es dieses Mal gar keine. Die Spielwelt bereist wird wiederum zu Fuß, per Pferd und mit Schnellreisepunkten.
Neun Provinzen hat die Spielwelt zu bieten, die größenmäßig etwas geschrumpft ist und nicht an das gigantische "Valhalla" herankommt. Die Abwechslung ist dafür immens, denn das Japan sieht mit satten Wäldern, wunderschönen Schreinen und beeindruckenden Bergen einfach nur fantastisch aus. Dass es nicht langweilig wird, dafür sorgt auch das erwähnte Jahreszeiten-System – je nach Jahreszeit blühen die Wiesen und Felder auf oder es fallen die Blätter und die Gewässer frieren zu. Auch das verändert das Gameplay, denn kahle Bäume bedeutet zum Beispiel weniger Versteckmöglichkeiten, gefrorene Gewässer dafür neue, begehbare Wege.
Auch Tag und Nacht wechseln sich ebenso wie das Wetter ab, anders als bei den Jahreszeiten darf man den Wechsel nach Erfüllung aller Bedingungen aber nicht manuell auslösen, wie es etwa im Rollenspiel "Elden Ring" der Fall ist. Schade, denn nicht nur bietet die Nacht bessere Tarnmöglichkeiten, auch sind einige Missionsziele nur zu einer bestimmten Tageszeit erreichbar. So bleibt es und manchmal nur übrig, Zeit mit einer Nebenaktivität totzuschlagen. Pro Jahreszeit kann unsere Spielfigur dafür Spione in die Spielwelt aussenden, die mit Ende einer Jahreszeit automatisch mit Informationen oder Rohstoffen des Feindes zurückkehren.
Die Aussichtspunkte wiederum gibt es weiterhin, sie decken aber nicht automatisch alle Orte und Schauplätze auf, sondern deuten diese nur an. Was wir in der Welt erforschen, bleibt zu einem großen Teil uns selbst überlassen. "Assassin's Creed Shadows" wird erfreulicherweise viele solcher Altlasten los, überzeugt mit atemberaubenden Gameplay und überrascht mit den beiden Spielfiguren. Wer übrigens nur auf eine der Figuren setzen will, verpasst unglaublich gute Szenen des Spiels, denn während einige mit Naoe pflichtabsolviert werden müssen, sind viele von Yasuke vollkommen optional und könnten ohne Figurenwechsel übersehen werden.