Nach der öffentlichen Demütigung von Wolodimir Selenski im Weißen Haus durch Donald Trump und seinen Vize JD Vance persönlich steht die Welt Kopf. Die Ukraine könnte die wichtige militärische Unterstützung durch die USA verlieren.
Dann wird es an Front knapp, ein "Dammbruch" könnte drohen, sagt Oberst Markus Reisner in seiner Analyse im ORF-Radio Ö1 am Samstag: "Und dann kann es sehr schnell gehen und alles Richtung Westen zurückfluten". Die nächste haltbare Verteidigungslinie könnte dann erst der mächtige Fluss Dnipro in der Mitte der Ukraine selbst sein.
Europa könnte – theoretisch – einspringen: "Das industrielle, ökonomische und rüstungstechnologische Potenzial hätten wir. Es ist die Frage, ob der politische Wille da ist."
Derzeit stünden die europäischen NATO-Partner nicht nur mit heruntergelassenen Hosen da, sondern würden erstmals "mit schreckensgeweiteten Augen" realisieren, dass gar keine Hose existiert, die man wieder hochziehen könnte. Europa habe zwar "zu Recht" nach dem Ende des Kalten Krieges die Friedensdividende eingefordert, dabei aber die eigenen Streitkräfte massiv zurückgerüstet.
Das wieder aufzuholen, wird ein Kraftakt. Reisner: "Wir sind gerade dabei, zu realisieren, dass wir keine Hose anhaben. Jetzt müssen wir uns den Kopf darüber zerbrechen, wo gibt es einen Schneider, der uns eine schneidert..."
„Fakt ist, dass sich Europa sicherheitspolitisch neu aufstellen muss, sich nicht mehr auf die USA verlassen kann.“Markus ReisnerMilitärhistoriker, Oberst des Bundesheeres
Das sei für uns in Europa auch die "Tragik" am plötzlichen Schwenk Trumps zu einem Kuschelkurs mit Wladimir Putin: "Sind wir bereit dazu, die Ukraine weiter so zu unterstützen und die USA zu kompensieren, oder nicht? Das ist eine ganz zentrale Frage, die über das Schicksal der Ukraine entscheiden."
Sowohl die nötige Aufrüstung der europäischen Streitkräfte als auch weitere militärische Unterstützung der Ukraine würden "sehr sehr viel Geld" kosten. "Das kann die Politik nur sehr schwer hinunterschlucken, weil sie es der Bevölkerung erklären muss", so Reisner. Er warnt vor Untätigkeit angesichts der Bedrohungen: "Es gibt nur eines, das mehr kostet: Wenn es Krieg geben würde."
Der Militärhistoriker spricht von historischen Ereignissen, die wir alle gerade durchleben: "Es muss uns klar sein, dass sich die Welt gerade massiv verändert." Die bisherige regelbasierte Ordnung breche zusammen und Europa habe keine wirksame Abschreckung in der Hosentasche: "Das klingt katastrophal und schlimm, aber es ist leider genauso, dass wir hier wieder im 19. Jahrhundert sind: Wer mehr militärische Macht hat, gibt den Ton an."
Diese Rückkehr zum Recht des Stärkeren würden viele Staaten nun nützen, "um beinhart Macht zu projizieren", konstatiert Reisner: "Was Russland mit der Ukraine getan hat, werden sich jetzt auch andere Länder überlegen. Niemand weiß, wie das ausgehen wird."
Trotz der sichtlichen Müdigkeit, was die zähe politische Willensbildung angeht, ist Militärhistoriker Reisner zuversichtlich: "Alleine aufgrund der historischen Betrachtung können wir diese Ereignisse jetzt ganz klar ansprechen, benennen und Vorkehrungen treffen." In der Geschichte zeige sich, dass Länder dazu neigen würden, lange nichts zu tun – bis die Betroffenheit zu groß werde. Doch dann würden sich Regierungen sogar zu Entscheidungen durchringen, die bis dahin als undenkbar galten.
Als Beispiel nennt er die Europäische Union: "Jahrhundertlang hat sich Europa auf blutigste Art und Weise bekriegt, und nach zwei Weltkriegen hat man dann endlich eingesehen, dass es gemeinsam besser geht als alleine. Diese Einsicht sollten wir in die Zukunft mitnehmen. Was auch immer Europa kostet, an Aufwand und Bürokratie bedeutet – es ist Garant dafür, dass wir uns nicht gegenseitig bekriegen."
"Das Gute ist, dass der Mensch es immer wieder geschafft hat, zur rechten Zeit, die richtigen Maßnahmen zu treffen, um das Schlimmste zu verhindern. Ich glaube zutiefst, dass die menschliche Vernunft auch hier siegen wird", sagt der Vater dreier Kinder.
Er versuche deshalb, gegen die immer noch vorherrschende Teilnahmslosigkeit ("Das geht uns eh nichts an. Wir haben das nicht begonnen, wir sind sowieso auf einem eigenen Planeten") anzukämpfen. Diese isolationistische Weltsicht sei fatal: "Im Gegenteil! Wir müssen schauen, dass wir resilienzfähig werden und uns darauf vorbereiten und dann werden wir diese Herausforderungen auch bewältigen. Wenn wir das nicht tun, dann kann die Überraschung eine Böse sein. Das sollten wir vermeiden. Das sind wir auch unseren Kindern schuldig."
Trotz allem blickt Oberst Reisner positiv in die Zukunft: "Verzagen wir nicht, sondern hoffen auf die Vernunft!"
Oberst Reisner zu Ukraine-Friedens-Verhandlungen (ORF III, 27.2.2025):