Ukraine
"Unvorstellbar" – Oberst hat düstere Ukraine-Prognose
Bundesheer-Offizier Markus Reisner warnt vor verfrühter Euphorie über ukrainische Erfolge. Wladimir Putin habe am Ende die besseren Karten.
Oberst Markus Reisner, Strategie-Experte des österreichischen Bundesheeres, ist durch seine militärischen Analysen des russischen Kriegs in der Ukraine seit Beginn der Invasion einem internationalen Publikum bekannt geworden. Jetzt lässt er in einem Interview mit "ntv" mit einer neuen Einschätzung des weiteren Verlaufs des Konfliktes aufhorchen.
Die Art und Weise, wie Wladimir Putins Truppen diesen Krieg führen, hat auch ihn überrascht: "Unmittelbar nach Beginn der russischen Invasion war unisono die Auffassung vorherrschend, dass die Ukraine diesen Krieg nicht lange würde führen können", so der Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Selbst die westlichen Unterstützer hätten nicht daran geglaubt, Geheimdienste mit einem Fall Kiews binnen Stunden gerechnet.
Aber: "Die Ukrainer haben alle überrascht", betont der Offizier. Er stellt aber auch klar, dass die gesamte Verteidigung des Landes in den ersten Tagen und Stunden auf der Kippe standen. Mit dem Abzug der Russen aus dem Raum Kiew wurde der gesamten Welt klar, dass Plan A des Kremls gescheitert war.
Plan B: überall Tod und Zerstörung
"In diesem Moment wurde der Widerstand der Ukraine erkennbar. [...] Die Russen hatten alles auf einen Enthauptungsschlag aufgebaut – sie wollten Kiew erobern und Präsident Selenski absetzen. Aber das hat nicht funktioniert. Seither ist es ein Hin und Her."
Die Ukrainer hätten zwar erfolgreiche Gegenoffensiven um Charkiw, Lyman und Cherson gewinnen können, doch jetzt im Winter sei eine Pattsituation eingetreten. Nüchtern stellt Reisner fest: "Beide Seiten verbuchen Erfolge und Rückschläge, aber wie der Krieg ausgehen wird, ist nicht klar".
Russland habe sich mit seinem Einmarsch "verkalkuliert". "Es hat eine Zeit gebraucht, bis es das erkannt hat. Aber schlussendlich haben die Russen darauf reagiert". Plan B der Russen sei die verstärkte Schlacht um den Donbass gewesen. Auch die Taktik wurde geändert: "nicht mehr schnell und tief vorstoßen, sondern langsam mit massiver Artillerieunterstützung".
Den Kessel von Lyssytschansk und Sjewjerodonezk hätten die Invasoren etwa genutzt um immer wieder ukrainische Reserven und auch Waffenlieferungen aus dem Westen zu zerstören, schildert der Experte. Schlussendlich wurden beide Städte von den Russen eingenommen, der weitere Vorstoß Richtung des zentralen Flusses Dnipro unterblieb aber.
HIMARS macht den Unterschied, doch...
Das unter anderem wegen der inzwischen ins Land strömenden Waffen aus dem Westen. "Es hat ein bisschen gedauert, bis der Westen verstanden hat, wie massiv die Ukraine unterstützt werden muss", sagt Reisner. Schuld daran sei auch die ukrainische Propaganda gewesen, die suggeriert hätte, man könne auch ohne diese Waffen Erfolge einfahren.
Doch erst die US-Mehrfachraketenwerfer HIMARS hätten das Blatt gewendet. Erst mit ihnen sei es den Ukrainern möglich gewesen, der massiven Artillerie-Überlegenheit der Russen gegenüberzutreten und gezielt Munitionslager und Versorgungsrouten anzugreifen.
... die Russen haben sich bereits angepasst
Die bisherigen Erfolge der Ukraine seien deshalb aber nicht überzubewerten. Reisner weiter: "Denn erstens braucht die Ukraine weiter die massive Unterstützung des Westens, vor allem durch Waffenlieferungen und nachrichtendienstliche Aufklärung. Und zweitens hat Russland erkannt, dass die Felle davonschwimmen, und versucht erneut, sich entsprechend anzupassen."
Das geschah durch die Mobilmachung von mehr als 300.000 Reservisten sowie den Angriffen auf die kritische zivile Infrastruktur, vorrangig das Elektrizitätsnetz, vor dem Winter.
"Zum einen geht es bei den Angriffen um das, was man 'Shaping' nennt, also die Vorbereitung einer Schlacht durch Angriffe auf die Infrastruktur. Zum Beispiel erschweren sie so die Lieferung des von der Ukraine dringend benötigten Nachschubs aus dem Westen. Und natürlich geht es den Russen auch darum, die Moral der Bevölkerung zu zerstören."
Letzteres, so zeigen es historische Bombardierungen von Städten im Zweiten Weltkrieg, funktioniere nicht, "eher im Gegenteil". Was aber für Kiew und die Verteidiger schlimm ist, ist die die strategische Abnutzung auf allen Ebenen. Dem Russen-Militär ergeht es dabei aber ähnlich.
"Ein Aufgeben Russlands ist fast unvorstellbar"
Die Chance, dass Putin einfach den Krieg für beendet erklärt, ist für den Bundesheer-Oberst gleich Null: "Ich glaube, ein Aufgeben Russlands ist fast unvorstellbar. Die jetzige Führung hat sich so in diesen Krieg verrannt, dass sie nicht einfach aufgeben kann." Nur ein Umsturz im Kreml würde daran etwas ändern – und selbst wenn, einige der möglichen Kronprinzen sind noch radikaler als Putin selbst.
Auch eine diplomatische Lösung ist weiterhin in weiter Ferne: "Sowohl die Ukraine als auch Russland gehen davon aus, dass sie auf dem Gefechtsfeld derzeit mehr zu gewinnen haben als am Verhandlungstisch."
Neue Russen-Offensive zeichnet sich ab
Russland habe nun damit begonnen, sich einzugraben, um eine Situation zu schaffen, in der die Ukrainer die Angreifenden sein und in russisches Artilleriefeuer laufen müssen.
Jetzt im Winter würden beide Seiten weiter versuchen, alle Chancen und Möglichkeiten zu nutzen. Die Kreml-Invasoren würden sich defensiv verhalten und weiter Kräfte zusammenziehen. Gleichzeitig würde aber weiter kritische Infrastruktur bombardiert.
Auf der anderen Seite werde die Ukraine "versuchen, Entscheidungen herbeizuführen". Das etwa mit einem Vorstoß auf Melitopol, der aber bisher vom russischen Widerstand aufgehalten wurde. Eine Einnahme der Stadt hätte, verbunden mit einem nochmaligen Angriff auf die Brücke von Kertsch, für die Ukraine den Vorteil, dass sie die russische Armee komplett von ihrem Nachschub auf der Krim abgeschnitten werde.
Der russische Gegenschlag werde dann im Frühjahr kommen: "Wenn die ukrainische Armee durch ihre eigenen Angriffe während des Winters sowie durch die Folgen der russischen Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur geschwächt ist, werden die Russen versuchen, in die Offensive zu gehen. Bis dahin werden auch die mobilisierten Kräfte in Massen an der Front angekommen sein."
Ukraine kann (nicht) gewinnen
Der dekorierte Oberst schickt auch eine eingehende Warnung voraus: "Dass die Russen ihren Blitzkrieg im Februar nicht gewonnen haben, sollte uns nicht zu der Annahme verleiten, dass sie zu schlagen sind." Langfristig hätte Wladimir Putin die besseren Karten.
"Da kämpft ein Land von 127 Millionen Menschen gegen einen weitaus kleineren Nachbarn. Gegen die höhere Kampfmoral der Ukrainer setzen die Russen ihre Skrupellosigkeit im Umgang mit den eigenen Rekruten", so Reisners düstere Analyse. "Am Ende wird der Ausgang des Kriegs stark davon abhängen, ob die russische Bevölkerung ruhig bleibt. Ich würde meine Hoffnung allerdings nicht darauf richten."
Dann macht Reisner eine Hammer-Ansage in Richtung Kiew: "Aus meiner Sicht kann die Ukraine diesen Konflikt nur fortführen, wenn der Westen sich dafür entscheidet, die Ukraine vorbehaltlos zu unterstützen, mit allen Mitteln, die zur Verfügung stehen. Die Alternative ist, dass wir uns eingestehen, dass wir nicht bereit sind, das zu tun. Dann sollten wir der Ukraine das aber bald mitteilen."
"Zu viel, um zu sterben. Zu wenig, um zu leben"
Die bisherigen Waffenlieferungen seien nämlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Warum schweres Gerät nur in Stückzahlen von wenigen Dutzend bereitgestellt werde und nicht hunderte, ist für den Strategie-Experten unverständlich. "Was der Westen der Ukraine liefert, ist zu viel, um zu sterben, und zu wenig, um zu leben. Für mich sieht es so aus, als wollten die Amerikaner eine Konfliktlösung oder zumindest ein Einfrieren erreichen – auch, um den Ukrainern die Möglichkeit zu geben, sich neu aufzustellen."
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