Bundesheer-Oberst im Interview
Putins Truppen läuten "neue Phase" ein, so Top-Experte
Putins Armee startet ihre nächste Angriffsphase, die Ukrainer erwidern verbissen. "Wie lange geht sich das aus?", fragt Oberst Markus Reisner.
Die russische Armee hat eine neue Offensive gestartet und greift plötzlich aus einer neuen Richtung an. Nördlich der ukrainischen Großstadt Charkiw gibt es laut Präsident Wolodimir Selenski "erbitterte Kämpfe" auf signifikanter Länge der Grenze. Mehrere Dörfer seien zum Kriegsgebiet geworden, die Stadt Wowtschansk stehe unter ständigem Beschuss.
Dort sei die Lage "sehr schwierig", so der Staatschef Sonntagabend in seiner Videoansprache auf X. Nur wenige hunderte Meter trennen die russischen Invasoren von dem Stadtgebiet. Die Rettungsmaßnahmen für die Zivilbevölkerung sind derweil angelaufen. "Wir werden in den nächsten Tagen alle evakuieren", erklärte der örtliche Leiter der Militärverwaltung. Wowtschansk hatte 2015 noch 19.000 Bewohnern.
Die ukrainische Armee führe bereits Gegenangriffe, heißt es. Wladimir Putins Verteidigungsministerium – unter neuer Leitung – meldet derweil die Einnahme mehrerer Ortschaften in der Region Charkiw.
Russen haben drei Ziele
"Wir erleben jetzt tatsächlich möglicherweise bereits den Übergang in eine neue Phase des Krieges", sagt Oberst Markus Reisner am Montag in seiner aktuellen Lageeinschätzung gegenüber dem "Ö1 Journal um acht". Bis vor Kurzem sei man noch in der sechsten Phase, der zweiten russischen Winteroffensive, gewesen. "Es scheint so, dass mit den Angriffen im Raum Charkiw eine neue Offensive eingeleitet wird."
Der Kreml verfolge damit wohl folgende drei Ziele:
- Eine Art Pufferzone schaffen, um Angriffe auf russische Städte wie das grenznahe Belgorod einzuschränken.
- Die ukrainische Versorgungssituation durch Eröffnung eines neuen Frontabschnitts weiter zu verschlimmern.
- Bereitstellungsräume für eine mögliche Offensive auf Charkiw selbst schaffen.
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Das "Fanal eines Abnützungskriegs"
Die aktuellen Vorstöße sieht Reisner als "Vorstufe" auf die erwartete Sommeroffensive: "Der Kräfteeinsatz, wie er sich momentan darstellt, reicht nicht aus, um eine derartig große Stadt wie Charkiw in Besitz zu nehmen." Charkiw ist nach Kiew die zweitgrößte Stadt der Ukraine und die Heimat von knapp 1,5 Millionen Menschen (2019).
Mit Blick auf das große Ganze zeige sich, dass die Ukraine, die ihre Kräfte "dringend" an der Front im Donbass brauche, in Bedrängnis komme: "Hier erkennt man das Fanal eines Abnützungskrieges, der darauf abzielt, den Gegner zu zwingen, an verschiedenen Fronten gleichzeitig Mittel einsetzen zu müssen."
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Nächsten Tage entscheiden
"Im schlimmsten Fall" könnte die Ukraine großflächige Gebiete an die Russen verlieren. Im Norden seien die Russen zwar jetzt vorgestoßen, aber noch nicht an den eigentlichen Verteidigungsstellungen angekommen. Diese seien in der Tiefe der Region angelegt worden, weil es der Dauerbeschuss direkt an der Grenze unmöglich gemacht hätte.
Reisner: "Wir werden in den nächsten 48 Stunden oder drei Tagen sehen, dass die Russen auf die ukrainischen Verteidigungslinien auflaufen. Und dann wird es davon abhängen, wie die Ressourcen verfügbar sind für die Ukraine, um sich gegen diese Angriffe zur Wehr zu setzen."
So sieht es in einer US-Munitionsfabrik aus
"Ukraine braucht jetzt das Material"
Die Wirksamkeit der wieder aufgenommen Waffenlieferungen der USA in diesem Abwehrkampf hänge ganz davon ab, ob das Material überhaupt rechtzeitig an der Front ankomme, erklärte der Militärexperte weiter. Gleiches gilt für europäische Bestrebungen.
Die erste Charge aus der tschechische Munitionsinitiative würde aber voraussichtlich erst Ende Juni ankommen und selbst dann würden die 80.000 Schuss Artilleriegranaten beim derzeitigen Verbrauch "nur wenige Tage" reichen. "Die Ukraine braucht jetzt das Material".
Der Kiewer Generalstab würde zwar strategisch Reserven umschichten, doch "die Frage ist: Wie lange geht sich das aus?"
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"Der Westen hat es in der Hand"
Für den Bundesheer-Offizier ist klar: Die Ukraine ist von westlicher Unterstützung abhängig, um die imperialistischen Angriffe Russlands auf ihr international anerkanntes Staatsgebiet abzuwehren. Damit das gelingt, müsse der Westen – vor allem aber Europa – endlich erkennen, dass dies ein Abnützungskrieg sei:
„Ein Abnützungskrieg folgt seiner eigenen Grammatik. Es geht hier um den Ressourcenansatz, nicht um Gebietseroberungen.“
Russland könne hier auf einen funktionierenden militär-industriellen Komplex zurückgreifen. Das zeige auch die Ernennung von Andrej Beloussow zum neuen Verteidigungsminister. Putins bisheriger langjähriger Vertrauter Sergej Schoigu (seit 2012 im Amt) muss mitten im Krieg das Feld räumen.
Beloussows Übernahme des Militärs – er war früher Wirtschaftsminister, seit 2020 ist er Vize-Ministerpräsident – zeige genau diese strategische Ausrichtung.
Auf der anderen Seite habe die Ukraine selbst nur eine kleine Rüstungsindustrie. "Somit hat es der Westen in der Hand, die Ukraine in die Lage zu versetzen, sich selbst zu verteidigen und besetzte Gebiete zurückzuerobern."