Heeres-Oberst Markus Reisner
"Könnte Bedingung für nukleare Vergeltung erfüllen"
Dem mutmaßlich ukrainischen Drohnen-Angriff auf eine Radaranlage des russische Atom-Frühwarnsystems könnte eine "gefährliche Eskalation" folgen.
Die schwere Beschädigung der russischen Radaranlage Armawir im Südwesten der Region Krasnodar durch einen mutmaßlich ukrainischen Drohnenangriff vor wenigen Tagen birgt laut Oberst Markus Reisner "hochbrisantem Zündstoff für eine neuerliche, gefährliche Eskalation".
Die getroffene Station ist nämlich Teil von Putins Atom-Frühwarnsystem, das anfliegende interkontinentale Atomraketen erkennen soll. Ihr Ausfall könnte die Fähigkeit des Landes, ankommende nukleare Bedrohungen zu erkennen, beeinträchtigen.
Der Militär-Experte äußerte sich am Sonntag auf der Bundesheer-Webseite direkt dazu und lieferte die Antworten auf drei aufkeimende Schlüsselfragen.
Blick auf das Voronezh-DM-Frühwarnradar in Armawir
Warum ist der Angriff auf die Radarstation Armawir so bemerkenswert?
Auf den vorgestern aufgetauchten Bildern sei zu erkennen, dass zumindest eines der beiden in Armawir stationierten russischen Voronezh-DM-Frühwarnradarsysteme bei einem gezielten Angriff schwer beschädigt wurde. Die Station ist eine ganz besondere und Teil eines Netzwerks von nur bis zu zehn solcher über ganz Russland verstreuten Radaranlagen.
Bei diesen Voronezh-DM-Radaren handle es sich um "Over-the-Horizon" (OTH) – "Ultra High Frequency" (UHF)-Radare, welche Teil des russischen Frühwarnradarsystems zur Erkennung ballistische Raketen sind. Sie hätten eine Reichweite von horizontal 6.000 und vertikal 8.000 Kilometern, erklärt Reisner.
"Ihr Ziel ist es, vor allem anfliegenden amerikanische Atomraketen früh erkennen zu können, um rasch eigene Maßnahmen, darunter im äußersten Fall einen russischen nuklearen Gegenschlag, einleiten zu können."
Welchen Nutzen hätte die Ukraine von solch einem Angriff?
Die Ukraine verfüge nur noch über Raketenwaffen mit begrenzter Reichweite. "Eigene Systeme wie Tochka-U sind verbraucht", sagt der Offizier. Unter den gelieferten westlichen Systemen steche das amerikanische "Army Tactical Missile System" (ATACMS) heraus. Dieses habe eine Reichweite von 300 Kilometern bei einer Flugbahnhöhe von bis zu 60 Kilometern.
Reisner:" Man könnte nun mutmaßen, dass die ukrainischen Streitkräfte Armawir ins Visier genommen haben könnten, weil sie befürchteten, dass der Standort dazu beitragen könnte, eine Vorwarnung für ihre Angriffe mit von den USA gelieferten ballistischen ATACMS zu geben."
Armawir befinde sich jedoch knapp 700 Kilometer von möglichen ATACMS Abschussräumen bei Cherson entfernt und hätte es aufgrund seiner Lage und Einrichtung schwer, so niedrig fliegende Raketen zu erfassen. "Die anvisierte einfliegende Rakete sollte sich zur exakten Messung zumindest in einer Höhe von über eintausend Kilometern befinden", so der Experte weiter.
Das klappt bei Interkontinentalraketen, die in der Regel in Höhen von bis zu 2.000 Kilometern fliegen, hervorragend. Doch: "Für taktische Kurzstreckenraketen, wie ATACMS, sind andere Radarsysteme vorgesehen."
War es ein Warnschuss der USA?
Es könnte aber auch noch eine ganz andere Erklärung geben, sagt Reisner. "Im Moment befinden sich die russischen Streitkräfte in der Ukraine in der Initiative", dieser Vormarsch wird vom Kreml mit fortlaufenden russischen Drohungen eines (taktischen) Atomschlags hinterlegt bzw. abgesichert.
Schon im Herbst 2022, kurz vor dem überraschenden Abzug der vor dem Einschluss stehenden russischen Truppen aus dem Brückenkopf bei Cherson, hatten US-Geheimdienste von möglichen Vorbereitungen eines russischen taktischen Nukleareinsatzes berichtet.
Aus genau solchen Gründen seien die USA während des gesamten Krieges "überlegt, aber nicht überschießend" gegenüber Russland vorgegangen. Das Weiße Haus verfolgte damit die 'Boiling the Frog'-Strategie.
Für Reisner ist die Spekulation daher "durchaus schlüssig, dass die USA mit dem durch die Ukraine ausgeführten Angriff auf die Voronezh-DMs in Armawir Russland zeigen möchte, dass man die unerträgliche Situation der russischen Drohungen mit Atomwaffen nicht länger akzeptieren möchte."
Nukleare Vergeltung
Die Vorzeichen sind jedenfalls düster: "Ist dies tatsächlich der Fall, lassen sich zwei weitere Feststellungen treffen: Erstens ist die Lage in der Ukraine überaus ernst und zweitens ist der Krieg um die Ukraine neuerlich eskaliert", warnt der Leiter der österreichischen Offiziersausbildung.
Jetzt müsse abgewartet werden, wie oder ob Russland auf diesen Angriff auf seine nukleare Abschreckungskapazität reagiert. Das russische Frühwarnerkennungssystem ist Teil der nuklearen Abschreckungsstrategie des Landes. "Der Angriff auf Armavir könnte die Bedingungen erfüllen, die Russland im Jahr 2020 öffentlich für gegnerische Angriffe festgelegt hat, die einen nuklearen Vergeltungsschlag auslösen könnten."
Hinzu komme der Umstand, dass eine mögliche Zusammenarbeit Russlands mit seinen engen Verbündeten im Nahen und Mittleren Osten – etwa durch Austausch der Radardaten – eingeschränkt wurde, zum Vorteil von engen Partnern der USA.