Markus Reisner

"Mitleidlos"! Heeres-Oberst mit düsterer Ukraine-Ansage

Wladimir Putin wirft seine Soldaten in verlustreichen menschlichen Wellenangriffen an die Front – und drängt die Ukrainer damit in die Defensive.

Roman Palman
"Mitleidlos"! Heeres-Oberst mit düsterer Ukraine-Ansage
Ein ukrainischer Soldat bei Robotyne an der Südfront Anfang Oktober 2023.
ROMAN PILIPEY / AFP / picturedesk.com

615 Tage schon erwehrt sich die Ukraine gegen den völkerrechtswidrigen Überfall der russischen Armee, bei dem Wladimir Putins Truppen bereits zahlreiche Kriegsverbrechen verübt haben. Die Situation an der Front ist dabei für keine der beiden Parteien eine rosige.

Die ukrainische Sommer-Offensive ist de facto gescheitert – der gelungene Vorstoß rund um Robotyne ist nur ein Bruchteil dessen, was man sich in Kiew und anderswo im Westen vorgestellt hatte. 

Gleichzeitig machen die Russen im Osten weiter Druck, erleiden aber bei ihrem Großangriff auf die seit 2014 an der Kontaktlinie und nunmehrigen Front liegenden Stadt Awdijiwka massive Verluste.

Oberst Markus Reisner attestiert den ukrainischen Verteidigern hier zwar einen bedeutenden Abwehrerfolg, sieht die Gesamtlage aber als durchaus kritisch. Die Ukraine stehe insgesamt militärisch unter Druck.

"Russland versucht, die Ukrainer langsam abzunützen", sagt er am Montag gegenüber "ntv". "Das Ergebnis sind nun erste langsame Gebietsgewinne im Nordwesten von Awdijiwka, Richtung Stepowe und im Südwesten Richtung Sjewerne."

Lageeinschätzung der Front bei Awdijiwka zum 31. Oktober 2023.
Lageeinschätzung der Front bei Awdijiwka zum 31. Oktober 2023.
Institute for the Study of War

"Kompromiss- und mitleidlos in den Angriff geschickt"

Auch Reisner thematisiert die hohen Verluste in den russischen Reihen: "Man kann deshalb sagen, dass die erste Phase der russischen Operationsführung im Feuer der ukrainischen Verteidiger gescheitert ist." Putins Armeeführung werfe dennoch immer neue Reservisten an die Frontlinie, um den Vorstoß weiterzuführen. "Russische Soldaten werden weiter kompromiss- und mitleidlos in ihren Panzern und Schützenpanzern in den Angriff geschickt."

Bundesheer-Oberst Markus Reisner ist Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt.
Bundesheer-Oberst Markus Reisner ist Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt.
Bundesheer/Kristian Bissuti

Diese zusammengezogenen Truppenmassen seien das "perfekte Ziel für Luft-Boden-Waffensysteme oder Raketen vom Typ ATACMS mit Clustergefechtsköpfen", weiß der Analyst. Die Ukrainer würden zwar die Bereitstellungräume derart angreifen, die Attacken seien aber "nicht massiert genug, um den Angriffsschwung der Russen zu brechen". Das müsse aber genau das Ziel der Ukrainer sein.

"In die Defensive gedrängt"

Insgesamt würden die Ukrainer "im Moment in die Defensive gedrängt" werden, weil die russische Armee nun ihre eigenen Kampfflugzeuge wieder deutlich aggressiver einsetze, gleichzeitig aber mehr Fliegerabwehr Richtung Front verlegt habe. "Die Ukraine ist deshalb gezwungen, ihre verbleibenden kostbaren Kampfflugzeuge [...] zu schützen." 

Dazu würden die Invasoren gerade selbst versuchen, die Ukraine zum Einsatz ihrer Reserven zu zwingen, wie den verschiedenen Angriffen auf Orte wie Awdijiwka zu entnehmen sei. "Das haben sie bereits im vergangenen Winter so gemacht", so Reisner.

1/15
Gehe zur Galerie
    So zerstört ist Awdijiwka. Bilder aus den Trümmern der Frontstadt im Ukraine-Krieg.
    So zerstört ist Awdijiwka. Bilder aus den Trümmern der Frontstadt im Ukraine-Krieg.
    IMAGO/ABACAPRESS

    Drohnen im Aufwind

    Gleichzeitig setzt Russland nun vermehrt selbst auf Kamikaze-Drohnen, die per First-Person-View gesteuert werden, und auch auf Präzisionsmunition vom Typ "Krasnopol", was eine "große Herausforderung" für die ukrainischen Streitkräfte sei. "Die Drohnen können jede Bewegung auf dem Schlachtfeld erkennen".

    Der Einsatz von Artillerie sei hingegen merklich zurückgegangen – wohl auch wegen des massiven Verschleißes der Geschützrohre und des gezielten Gegenfeuers der Ukrainer. Dazu komme ein intensiver Einsatz von elektromagnetischen Störsystemen, um die ukrainischen Drohnen und Kommunikation zu behindern.

    1/5
    Gehe zur Galerie
      Abseits der aktuellen Front laufen in der Ukraine bereits großangelegte Aktionen zur Auffindung und Vernichtung von Landminen. Dabei helfen nun auch Drohnen. 
      Abseits der aktuellen Front laufen in der Ukraine bereits großangelegte Aktionen zur Auffindung und Vernichtung von Landminen. Dabei helfen nun auch Drohnen.
      SERGEY BOBOK / AFP / picturedesk.com

      Winter-Angriffswelle erwartet

      Im kommenden Winter wird Russland, so die Erwartung des Bundesheer-Offiziers, ebenso neuerlich die kritische (zivile) Infrastruktur der Ukraine mit Marschflugkörpern und Kamikaze-Drohnen attackieren. Erste Anzeichen sieht er darin, dass die russische Produktion von Marschflugkörpern laut "New York Times" die Vorkriegsrate bereits wieder überschritten habe.

      "Deswegen ist es notwendig, dass der Westen weitere Fliegerabwehrsysteme und vor allem Munition liefert." Die deutsche Entscheidung, ein weiteres IRIS-T-System zu liefern, sei deshalb goldrichtig gewesen. "Es wird helfen, die strategische Tiefe der Ukraine zu schützen."

      Düsterer Ausblick

      Reisner, der sich aktuell als Gastredner bei der Harvard German American Conference (GAC) in den USA aufhält, macht auch dort auf die gravierenden Probleme aufmerksam: "Wir stehen aktuell einer sehr ernsten Situation gegenüber. Es ist nicht gesichert, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird", sagt der Garde-Oberst.

      rcp
      Akt.