Ukraine
"Fakt ist, dass Ukraine in die Offensive gehen muss"
Oberst Markus Reisner analysiert das Kriegsgeschehen in der Ukraine seit Beginn. Er weiß, warum die Frühlingsoffensive weiter auf sich warten lässt.
Die Welt – auch die Russen – wartet mit Spannung auf die kolportierte Frühjahresoffensive der Ukraine. Die Verantwortlichen hüllen sich in Schweigen, alle kriegsrelevanten Details sind streng geheim. Dennoch gibt es einige Anzeichen, die Außenstehenden verraten, was in Kiew geplant wird – und wie Moskau darauf reagieren will.
Aktuell versuche die ukrainische Seite, die Rahmenbedingungen für eine künftige Offensive zu schaffen. "Man nennt das im Militärischen sogenanntes 'Shaping'", erklärt Oberst Markus Reisner des Österreichischen Bundesheeres in einem am Dienstag veröffentlichten Gespräch mit dem "Kurier". Die Drohnenangriffe auf wichtige Stellungen der Russen, etwa Sewastopol, seien dem zuzuordnen.
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Auch, dass bereits ukrainische Soldaten auf das rechte Ufer des Dnipro vorgedrungen sind, könnte Teil dessen sein. Diesen Vorstoß will Reisner aber nicht überbewerten. Das Gelände auf der Ostseite sei sehr schwierig, es würden weitere Flüsse folgen und dahinter hätten sich die Russen in städtischem Gebiet verschanzt.
"Momentan bedeutet das keine unmittelbare Bedrohung für die russischen Truppen. Wenn es den ukrainischen Soldaten gelingt, diese Brückenköpfe auszuweiten, dann hat es natürlich schon einen Einfluss", kommentiert der Garde-Offizier und Militärhistoriker die dortige Lage.
Schlammzeit abwarten
Die entscheidende Phase, in der es zu einem großen Vorstoß kommt, steht aber noch bevor. Doch wann kommt die Offensive?
"Der Faktor Zeit ist im Moment bestimmt durch die Umfeldbedingungen", mahnt Reisner zu Geduld. Das Terrain sei durch die weiter andauernde Schlammzeit – ukr. "Bezdorizhzhya", ru. "Rasputiza", die "Zeit der Wegelosigkeit" – weiterhin eine Gatsch-Hölle und für westlichen Waffensysteme wie den Leopard mit seinen 60 Tonnen Gewicht nur schwer passierbar. "Ich denke, wir müssen da noch etwas zuwarten, bis der Boden entsprechend hart ist."
Spaltung der Russen-Front
Und dann? Das günstigste Ergebnis einer solchen Offensive wäre nach einhelliger Expertenmeinung eine Teilung der russischen Besatzungskräfte im Süden und/oder im Osten.
"Das heißt, man hätte dann eine Situation geschaffen, wo bei einem Durchbruch der ukrainischen Kräfte nördlich von Melitopol, nördlich von Berdjansk oder sogar in der Nähe von Mariupol, es dazu führen würde, dass die russischen Kräfte auf der Krim, in Saporischschja und Cherson abgeschnitten werden von der Versorgung über den Landweg".
Ein zeitgleicher Angriff auf die Krim-Brücke würde dann diese Truppen komplett abtrennen. "Ob es tatsächlich dazu kommt, sei dahingestellt", bremst Reisner zu hohe Erwartungen ein.
Die Masse der russischen mechanisierten Kräfte sei derweil im oberen Nordosten bei Svatove-Kupjansk zu beobachten: "Was auch ein möglicher Indikator sein kann, dass die Russen den Angriffe eigentlich an ganz anderer Stelle erwarten."
Offensive unabdingbar
"Fakt ist, dass die Ukraine in die Offensive gehen muss, um aus diesem verheerenden Abnützungskrieg auszubrechen", weiß der Kriegsanalyst. In der derzeitigen Situation sei die Ukraine nämlich gegenüber den Russen und ihrer tiefen Waffen- und Soldatenreserven im Nachteil. Ob die neu aufgestellten Einheiten Kiews mit westlichen Waffen schlagkräftig genug sind, um auch zu vollbringen, was sich die Generalität erhofft, könne sich erst auf dem Gefechtsfeld zeigen.
Bachmut bindet Kräfte
Auch die Schlacht um Bachmut hat Reisner genau im Blick: Videos aus Quellen beider Seiten würden zeigen, dass der Großteil der Stadt bereits von Russen erobert werden konnte. "Man kann davon ausgehen, dass nur 10 bis 15 Prozent im Westen in ukrainischer Hand sind."
In Kiew argumentiert man derweil die anhaltende aber inzwischen aussichtslos erscheinende Verteidigung Bachmuts damit, dass hier viele russische Kräfte gebunden würden, die an anderen Stellen der Front fehlten. "Und das sehen wir jetzt auch, wenn wir die Kräfte betrachten".
Die Gruppe Wagner habe mittlerweile alle ihre Söldner im Ukraine-Einsatz in der Stadt konzentriert. Ein Sieg hier hätte zwar symbolisch hohe Bedeutung, strategisch ist es aber nur eine kleine Etappe, denn hinter Bachmut wartet bereits die nächste Verteidigungslinie.
Uralt-Panzer gut genug
Dass der Kreml nun Uralt-Panzer in den Kampf schickt, sieht Reisner differenzierter als andere Kommentatoren. In der Ukraine sehe man derzeit nicht klassische Panzerschlachten, wie man sie aus dem Zweiten Weltkrieg kenne, sondern einen Stellungskrieg, "wo Panzer vor allem in einer Rolle als Sturmgeschütze eingesetzt sind."
Eine Kanone auf Rädern würde in einem Krieg, sinngemäß, immer Verwendung finden. "Da ist es auch völlig irrelevant, ob sie ein modernes oder älteres System haben. Die T-55-Modelle, die nach dem Weltkrieg entwickelt worden sind, haben im Prinzip alle Fähigkeiten eines Panzers. Sie sind gepanzert, haben eine hohe Beweglichkeit und Feuerkraft – dafür muss das System nicht was weiß ich wie modern ausgestattet sein wie etwa ein T-90."
Russische Masse gegen westliche Klasse
Laut Reisner setzt das russische Militär weiter klar auf Masse statt Klasse. Was verfügbar wird – aus dem Lager oder der Reparatur kommt – wird ins Gefecht geworfen.
Auch die Ukrainer hätten T-55 im Einsatz, allerdings in einer modernisierten Version wie sie auch in Slowenien im Arsenal waren. "Die westlichen Waffensysteme, die hereinkommen, sind natürlich qualitativ viel hochwertiger. Aber sie haben den großen Nachteil: sie sind in nur begrenztem Umfang verfügbar und sind wesentlich schwerer als die von Russen verwendeten T-Modelle." Das sei auch für jede Offensive ein entscheidender Faktor.