Fast eine Woche lang tobte die blutige Entscheidungsschlacht um Welyka Nowosilka. Sonntagabend, 26. Jänner 2025, proklamierte die russische Armee schließlich die vollständige Eroberung der ostukrainische Kleinstadt mit ehemals rund 5.000 Einwohnern.
Putins Truppen hatten in verlustreichen Massenangriffen die Schlinge um die Gemeinde immer enger gezogen, die ukrainischen Verteidiger von drei Seiten in die Zange genommen. Am 23. Jänner sei der schmale Versorgungskorridor nahezu unpassierbar geworden, berichtet der "Economist" am Dienstag.
Als sich Nebel über das Land legte, sei der Befehl zum Rückzug gegeben worden. Es sei ein "albtraumhaftes Unterfangen" gewesen, das viele Ukrainer nicht überlebt haben dürften. Wer noch kampfbereit ist, dürfte voraussichtlich zur Verteidigung von Pokrowsk abgestellt werden, das als Logistikknoten für beide Seiten besondere Bedeutung hat.
Doch auch die Kreml-Armee muss jeden eroberten Quadratmeter mit Unmengen an Blut bezahlen. Dabei setzen Putins Generäle weiter auf ihre menschenverachtende Taktik: Ohne Rücksicht auf die eigenen Verluste werden unerbittlich Infanterieeinheiten in den Kugelhagel geschickt.
"Sie suchen nach unseren Schwachstellen. Und dann massieren sie ihre Kräfte dort, wo sie taktischen Erfolg haben", erklärt Andriy Cherniak, ein Offizier des militärischen Geheimdienstes gegenüber dem "Economist". Das machen die Russen so lange, bis die Verteidigung schließlich erodiert und sich die verbliebenen Ukrainer zurückziehen müssen.
Dabei zeigt sich die Grausamkeit dieses Abnützungskrieges in aller Deutlichkeit: Russland hat immer noch genügend Infanterie, die ukrainische Armee, die unter verzögerter Mobilisierung und einer zunehmenden Zahl an Deserteuren zu leiden hat, nicht.
"Wir haben Mühe, unsere Verluste auf dem Schlachtfeld zu ersetzen", bestätigt Oberst Pawlo Fedosenko, Befehlshaber einer taktischen Einsatzgruppe im Donbass, dem Medium. "Sie könnten ein ganzes Bataillon von Soldaten auf eine Stellung werfen, die wir mit vier oder fünf Soldaten besetzt haben."
Die ukrainischen Brigaden im Donbass seien chronisch unterbesetzt, würden unter genügend Druck zusammenbrechen. Dadurch können die Russen langsam, aber doch vorrücken.
Wie dramatisch es um die Verteidiger steht, schildert auch ein inzwischen pensionierten Offiziers mit dem Kampfnamen "Kupol". Er hatte demnach bis September das Kommando über eine Brigade im östlichen Donbass. "Wir haben keine Taktik mehr, die über das Stopfen von Löchern hinausgeht. Wir werfen Bataillone in das Chaos und hoffen, dass wir das Vorrücken irgendwie aufhalten können", sagt er.
Wladimir Putin wähnt sich deshalb weiter auf der Siegerstraße und scheint kaum Interesse an einem Kompromiss zum Ende des Konflikts haben. Die dafür nötigen Waffen dürften ihm jedenfalls nach Einschätzung des ukrainischen Geheimdienstes so bald nicht ausgehen.
"Sie haben mindestens ein Jahr, wenn nicht sogar zwei Jahre Zeit, um ihren Kampf fortzusetzen, wie sie es bisher getan haben", so Cherniak. Die Rüstungsindustrie sei die "heilige Kuh" des Kremls, die dieser gegen alle wirtschaftlichen Widrigkeiten beschützen werde. Dazu liefere Nordkorea inzwischen neben Munition und Geschützrohre auch die Artilleriesysteme selbst.
Währenddessen schwächelt die westliche Unterstützung der Ukraine. "Russland alleine könnte weder diesen Krieg führen noch gewinnen. Aber Russland ist nicht alleine, es hat Verbündete … und diese Verbündete sind offensichtlich besser als die, die Ukraine hat", hatte erst kürzlich Oberst Markus Reisner in seiner Lageanalyse dazu konstatiert.
Das militärische und psychologische Horror-Szenario für die Ukraine wäre ein russischer Durchbruch bei Pokrowsk. Westlich dahinter befindet sich offenes Feld, in dem motorisierte Verbände schnell in die Tiefe der nächsten Oblast Dnipropetrowsk vorstoßen könnten.
Für Hauptmann Ivan Sekach, der zuletzt Welyka Nowosilka mit verteidigt hatte, gehört auch eine gehörige Portion Glück dazu. Im dortigen Frontabschnitt seien russische Panzerkolonnen mehr als einmal durchgebrochen und hinter die Verteidigungslinien gelangt, ohne dies zu bemerken. Verloren und desorientiert hätten sie daraufhin kehrtgemacht: "Die russische Armee belohnt keine klugen Leute, das ist meine einzige Erklärung", sagt Sekach. "Aber wir können uns nicht darauf verlassen, dass das so bleibt."