Große Veränderung in den Alpen
"Erkennen, dass wir uns selber den Arsch retten müssen"
Schon in 50 Jahren könnten die österreichischen Alpen völlig eisfrei sein. Ehrenamtliche Gletschermesser des Alpenvereins warnen vor den Folgen.
14 Grad im Schatten auf 2.700 Höhenmetern 9 Uhr morgens, die Sonne brennt vom wolkenlosen Himmel. Beste Voraussetzungen für eine Bergwanderung, eigentlich. Dennoch haben knapp zwei Dutzend Mitglieder des Alpenvereins, die sich am vergangenen Samstag am Dachstein-Gletscher versammelt haben, damit nicht nur Freude.
"In unserer Familie gibt es nur zwei Wetterlagen: Gut fürs Eiskar, oder schlecht fürs Eiskar", sagt Gerhard Hohenwarter während unter seinen Füßen das Schmelzwasser talwärts rinnt.
Der Villacher ist, wie die meisten anderen Teilnehmer des Alpenvereins-Treffens auch, ehrenamtlicher Gletschermesser. Rund zwei Dutzend von ihnen steigen jedes Jahr auf die Berge, um mit Laser und Maßband akribisch alle Längenänderungen der hochalpinen Eismassen zu dokumentieren. Dieses wertvolle Datenarchiv des Alpenvereins reicht mittlerweile 133 Jahre zurück.
"Heute" war auf dem Dachstein mit dabei. Im Gespräch mit den Bergfexen wird schnell klar, sie leben und lieben ihre Aufgabe. Diese wird oft in der Familie von einer Generation an die nächste weitergegeben. Auch Gerhard Hohenwarter Senior wachte schon über Österreichs südlichsten Gletscher, das Eiskar in den Karnischen Alpen.
Alpine Sterbebegleitung
Alle sind sie Zeitzeugen der fortschreitenden Erderwärmung an vorderster Front. Die Gletscher, die sie jedes Jahr im September aufsuchen, schmelzen in sich zusammen. Auch ihre Zahl nimmt ab: Viele sind inzwischen gänzlich verschwunden oder in nicht mehr sinnvoll messbare Teile zerbrochen.
Zwar ist die Erinnerung an den letzten erlebten Eisvorstoß in den 1980er Jahren unter den Gletschermessern noch quicklebendig, doch seit bald drei Jahrzehnten gleicht ihre Arbeit zunehmend einer Art alpinen Sterbebegleitung.
Nirgends wird das deutlicher als an Österreichs bekanntester und größter Gletscherzunge, der Pasterze am Fuße des Großglockners. Diese hatte zuletzt im Rekordtempo an Masse eingebüßt. Als Mahnmal des Klimawandels wurde sie bereits 2023 symbolisch zu Grabe getragen.
Bilder: Symbolisches Begräbnis für Gletscherzunge Pasterze
Gletscher in 50 Jahren verschwunden
Inzwischen ist ein Rückzug der heimischen Gletscher von durchschnittlich 20 Metern Länge pro Jahr "leider nichts Außergewöhnliches", betont Projektleiter Andreas Kellerer-Pirklbauer. Der Wissenschafter am Institut für Geographie an der Universität Graz weiß: Geht es mit dem Klimawandel weiter wie bisher, sind alle unsere Gletscher dem Untergang geweiht.
Sie zehren nur noch von den in der Vergangenheit angesammelten Eisreserven. Kein einziger hat noch ein Nährgebiet, das ihn auch nur annähernd erhalten könnte. In den 2060er werden sie aktuellen Schätzungen zufolge deshalb voraussichtlich vollständig verschwunden sein.
Bilder: Pasterze am Großglockner schmilzt rasant davon
Die Veränderungen in den Alpen machen auch die Arbeit der Gletschermesser zunehmend gefährlicher. Kellerer-Pirklbauer, der die Pasterze überwacht, schildert, dass die Begehungen immer riskanter werden. Er selbst könne die Gletscherzunge nur noch mithilfe einer Seilbrücke der Bergrettung vermessen. Der Gletscherbach sei durch das viele Schmelzwasser zu einem "reißenden Fluss" angeschwollen, eine Querung zu Fuß gar nicht mehr möglich.
Dazu kommt noch die Zunahme von Steinschlägen durch den auftauenden Permafrostboden. Das kann auch schon mal ganze Alpengipfel sprengen, wie der massive Felssturz am Fluchthorn im Juni 2023 eindrücklich zeigte. "Heute" berichtete ausführlich.
Doch ist nicht nur alles Eis und Stein in den Alpen. Das zeigt auch der Lokalaugenschein mit dem Alpenverein am Dachsteinmassiv. Oben auf 2700 Metern Seehöhe brummt dank der Seilbahn hier nicht nur der Tourismus. Das wird besonders abseits des präparierten Hauptweges, auf dem sich Menschenmassen Richtung Gipfelkreuz schleppen, deutlich.
"Naturschutz bedeutet Wohlfahrt für die Gesellschaft"
Auf dem nahen Gjaidstein strecken sich die weit geöffneten Blüten von Hornkraut und Alpenmohn aus Felsspalten der Sonne entgegen und auch das Gletscherfeld selbst ist gefüllt mit Leben, gleicht fast einer Schmetterlingsautobahn. Unzählige Falter, aber auch Fliegen und Wildbienen summen über Schnee und Eis – ihre große Zahl erstaunt an diesem Tag selbst die erfahrenen ÖAV-Alpinisten.
Der hochalpine Raum sei auch abseits der Gletscher besonders schützenswert, sagt Kellerer-Pirklbauers Kollege Gerhard Karl Lieb. Auch er, der seit 1981 die Eisschmelze dokumentiert, sieht hier die alpinen Vereine wie auch Naturschutzorganisationen in der Pflicht. Diese müssten "ihre Stimme erheben, dass diese letzten naturnahen Gebiete auf möglichst großen Flächen unbeeinflusst bleiben."
Denn: "Das bedeutet naturnahe Ökosysteme, bedeutet Biodiversität, bedeutet damit Klimaschutz, bedeutet damit Wohlfahrt für die Gesellschaft. Das ist kein politisches Statement, das sind wissenschaftliche Tatsachen."
Gletschermesstreffen des Alpenvereins am Dachstein 2024
"Selber den Arsch retten"
Diesen sollten wir auch vor allem um unserer selbst Willen ernst nehmen, ergänzt ÖAV-Vizepräsidentin und Direktorin der Volkshochschule Salzburg Nicole Slupetzky: "Vielleicht müssen wir das umbenennen. Es geht eigentlich um Menschenschutz."
"Die Natur wird in irgendeiner Form – auch wenn's uns nicht mehr gibt – ihren Weg finden. Es wird vielleicht anders sein, aber es müssen wir uns die Frage stellen, wie das auch unseren Alltag und unser Leben verändert. Eigentlich müsste man beim Mensch den Selbsterhaltungstrieb, den er eigentlich hat, triggern", sagt Slupetzky.
Sie bringt es "salopp formuliert" auf den Punkt: Die Gesellschaft müsse "erkennen, dass wir uns selber den Arsch retten müssen".