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Alpen bröckeln – Berg droht ganzes Dorf auszulöschen

In der Schweiz droht ein ganzes Dorf von einem Bergsturz verschluckt zu werden. Die Gemeinde Brienz wurde evakuiert, die Bewohner bangen.

Das Dorf vor dem Brienzer Rutsch: Seit dem 12. Mai 2023 ist die gesamte Gemeinde evakuiert. Nur in Behördenabsprache sind kurze Aufenthalte gestattet.
Das Dorf vor dem Brienzer Rutsch: Seit dem 12. Mai 2023 ist die gesamte Gemeinde evakuiert. Nur in Behördenabsprache sind kurze Aufenthalte gestattet.
Arnd Wiegmann / AP / picturedesk.com

Der Einsturz des Tiroler Fluchthorn-Gipfels ließ am Wochenende Schockwellen durch Österreich gehen. Doch nicht nur unsere Alpen sind in Bewegung, auch ein Schweizer Bergdorf ist von einer Geröll-Lawine bedroht. Die auf einer Terrasse auf einer Höhe von rund 1.150 Metern liegende Gemeinde Brienz droht mitsamt dem Berg ins Tal zu rutschen. Die besondere Geologie der Region könnte zu einer Katastrophe enormen Ausmaßes führen.

Die Ursachen – beim Fluchthorn ist es das Auftauen des Permafrostes durch den Klimawandel – sind aber andere: Laut dem Geowissenschafter Niels Hovius, der seit mehreren Jahren vor Ort für das Deutsche GeoForschungsZentrums GFZ Gesteinsproben sammelt, dürfte die gesamte Struktur, zu der der Berghang gehört, seit dem Ende der letzten Eiszeit vor mehr als 10.000 Jahren in Bewegung sein. Damals wurden die von den Gletschern steil geschliffene Talhänge von ihrer Eislast befreit und von Flüssen unterspült, berichtet er in einem Interview

"Das Dorf ist seit Menschengedenken in Bewegung: Die gesamte Terrasse rutscht vermutlich seit der letzten Eiszeit talwärts. In den vergangenen 100 Jahren bewegte sich Brienz/Brinzauls jeweils wenige Zentimeter pro Jahr. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Rutschung aber stark beschleunigt: Aktuell beträgt die Bewegung rund einen Meter pro Jahr", klärt die Gemeinde auf. 

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    Riesige Felsmassen bedrohen Dorf Brienz: am 12. Mai 2023 wurde die Gemeinde evakuiert, die Bewohner dürfen nur in Absprache mit Behörden kurz in den Ort.
    Riesige Felsmassen bedrohen Dorf Brienz: am 12. Mai 2023 wurde die Gemeinde evakuiert, die Bewohner dürfen nur in Absprache mit Behörden kurz in den Ort.
    IMAGO/Bernd März

    Seit rund 140 Jahren rutschen nun auch die Hänge oberhalb: "Im Jahr 1877 begann nordöstlich des Dorfes Felsmassen von rund 13 Millionen Kubikmetern talwärts zu rutschen". Da der sogenannte "Igl Rutsch" glücklicherweise relativ langsam und über mehrere Wochen erfolgte, seien damals keine Menschen zu Schaden gekommen.

    Doch mittlerweile haben die Bewegungen wieder massiv zugenommen. Tonnenschwere Brocken lösen sich und donnern Richtung des 100-Seelen-Ortes. Die Behörden haben wegen der drohenden Gefahr bereits vor Wochen "Phase Rot" ausgerufen und alle Bewohner evakuiert. Seit 12. Mai schon dürfen sie nicht in ihre Häuser zurück, wer dennoch die Sperrzone unerlaubt betritt, riskiert eine Strafe in Höhe von 5.000 Franken. 

    "Phase Rot" in Brienz: der Ort ist evakuiert und zur Sperrzone (rot) gemacht worden.
    "Phase Rot" in Brienz: der Ort ist evakuiert und zur Sperrzone (rot) gemacht worden.
    Gemeinde Albula/Alvra

    Prozesswechsel am Berg

    Am Dienstag kurz nach 10 Uhr ist am Brienzer Rutsch nun ein Teil der sogenannten Insel abgebrochen. Kurz darauf kam es erneut zu einem größeren Felssturz. Die Insel ist ein Bereich des Brienzer Rutsches, der sensibel und sehr rasch auf Niederschläge und Schneeschmelze reagiert. Aus ihm stürzen immer wieder Felsblöcke ab. Rund 100.000 Kubikmeter Material sitzen "Huckepack" auf der Insel.

    VIDEO: Hier bricht ein Teil der Insel ab

    "Die zunehmende Geschwindigkeit und die große Anzahl an Blockschlägen deutet darauf hin, dass am Berg ein Prozesswechsel stattfinden wird", sagt Christian Gartmann, Mitglied des Gemeindeführungsstabs der Gemeinde Albula/Alvra. "In welcher Form die Insel abgehen wird und wann das sein wird, ist allerdings nach wie vor unklar. Es kann noch Tage oder Wochen dauern. Das ist frustrierend."

    Die Insel ist ein Bereich des Brienzer Rutsches, der sensibel und sehr rasch auf Niederschläge und Schneeschmelze reagiert.
    Die Insel ist ein Bereich des Brienzer Rutsches, der sensibel und sehr rasch auf Niederschläge und Schneeschmelze reagiert.
    Gemeinde Albula/Alvra

    Auch der Landwirtschaft wurde nun wegen der geänderten Gefahrenlage der Zutritt zu den Wiesen unterhalb versperrt. Das Dorf Brienz ist bereits seit Wochen evakuiert: "Endlich kommt richtig Bewegung am Berg. Je schneller die Insel abbricht, desto eher kann ich wieder in meine Heimat zurück", hofft Bewohnerin Ruth Tarnutzer (59). Wann die Anwohner ins Dorf zurückkehren können ist weiter unklar. "Die Evakuierung kann noch lange andauern", so die Gemeinde.

    Nicht die erste Bergsturz-Katastrophe

    Wie das Schweizer Nachrichtenportal "20 Minuten" berichtet, wäre der Brienz im Katastrophenfall nicht der erste Ort, der von einem Berg verschluckt wird. Am 2. September 1806 hatten sich etwa am Rossberg in den Zentralschweizer Voralpen 36 Millionen Kubikmeter Gestein gelöst und die Dörfer Goldau und Röthen ausgelöscht. 457 Menschen kamen ums Leben, 111 Gebäude wurden zerstört. Nur 14 Personen konnten lebend geborgen werden.

    Auch Teile der Gemeinden Buosigen und Lauerz wurden getroffen. Der nahe Lauerzersee verlor auf einen Schlag ein Siebtel seiner Fläche. Laut Augenzeugen lösten die Felsmassen eine 20 Meter hohe Flutwelle aus, die "alle Gebäude rings um den See mit sich fortriss", wie die "NZZ" damals schrieb. Bis heute sind weite Teile der kahlen Abbruchstelle zu sehen.

    Felstrümmer im Goldauer Bergsturzgebiet von 1806, aufgenommen 2013.
    Felstrümmer im Goldauer Bergsturzgebiet von 1806, aufgenommen 2013.
    Günter Fischer / ChromOrange / picturedesk.com

    Katastrophe mit Ansage

    Ähnlich wie nun in Brienz hatte sich die Katastrophe angekündigt. Schon in den Jahren zuvor bildeten sich immer mehr für die Bewohner eindeutig wahrnehmbare Risse in den Gebäuden und dem Gelände. Ausgelöst wurde der tödliche Bergsturz dann durch starke Regenfälle, die in den Wochen davor im Gebiet niedergegangen waren. Bereits die Jahre zuvor waren ausgesprochen regenreich. Das Wasser drang in die tief liegende Mergelschicht ein und weichte sie auf. Der Berg geriet ins Rutschen.

    Laut dem Schweizer Geologen Albert Heim, der das Ereignis später untersuchte, wäre aufgrund der sich häufenden Anzeichen genügend Zeit zum Fliehen vorhanden gewesen. Doch man ging davon aus, dass zwischen dem Berg und dem Dorf noch ausreichend Platz sei. Zudem konnten sich die Menschen vor Ort wohl gar nicht vorstellen, wie gewaltig die Katastrophe ausfallen könnte.

    Internationale Solidarität

    Die Bestürzung über die Katastrophe war im In- und Ausland riesig. Entsprechend groß war die Hilfsbereitschaft. Von Regierungschef Andreas Merian dazu aufgerufen, schickten alle Kantone Geld. Auch aus dem Ausland trafen Spenden ein, etwa von Kaiser Franz I. von Österreich. Der Bergsturz von Goldau gilt als erstes Ereignis, das Spendensammlungen in der ganzen Schweiz auslöste. Wichtig war diese Solidaritätswelle auch für das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl in der damals von Frankreich dominierten Schweiz – gut vier Jahrzehnte vor der Gründung des heutigen Bundesstaats.

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      privat, iStock