Angriffe in Amsterdam

Vermeintliche Israelkritik in Wahrheit Antisemitismus

Nach den jüngsten Angriffen in Amsterdam warnt die israelische Regierung ihre Bürger vor Reisen nach Europa. Nimmt Antisemitismus hierzulande zu?

Vermeintliche Israelkritik in Wahrheit Antisemitismus
Nach den heftigen Gewaltattacken gegen israelische Fussballfans vor vier Tagen kam es am Montagabend in Amsterdam erneut zu Krawallen.
REUTERS

Am Rande eines Fußballspiels in Amsterdam kam es vergangene Woche zu antisemitischen Angriffen auf israelische Fans. Videos in den sozialen Medien zeigen, wie dunkel gekleidete und vermummte Personen Fans des israelischen Vereins Maccabi Tel Aviv angreifen und verprügeln. Dem vorangegangen waren mutmaßlich Provokationen und feindselige Gesänge der Tel-Aviv-Anhänger gegenüber Muslimen. Sie sollen auch eine palästinensische Flagge von einem Gebäude gerissen haben.

Die israelische Regierung hat ihre Bürger und Bürgerinnen als Reaktion auf die Vorfälle in Amsterdam aufgefordert, in der nächsten Woche Sport- und Kulturveranstaltungen mit israelischer Beteiligung vollständig zu meiden. Insbesondere das Fußballspiel von Israel gegen Frankreich in Paris ist zum Hochrisikoanlass erklärt worden.

Wie sieht Antisemitismus heute aus?

Antisemitismus, also die moderne Form der Feindseligkeit gegen Juden, zeigt sich heute oft in neuen, versteckten Formen, sagt Nahost-Experte Reinhard Schulze. Diese "moderne Judenfeindlichkeit" komme häufig als Kritik an Israel oder als Antizionismus daher. "Der derzeit dominierende Deutungsrahmen, dessen sich der Antisemitismus bedient, kleidet sich in eine vermeintliche Israelkritik: Viele Menschen, die Israel kritisieren, sehen sich als Gegner von Kolonialismus und Unterdrückung und greifen dabei Ideen auf, die noch aus dem Kalten Krieg stammen", sagt Schulze.

Antisemitismus und Antizionismus

Antisemitismus ist eine Form von Vorurteilen und Feindseligkeit gegenüber jüdischen Menschen. Er äußert sich in diskriminierenden Handlungen, Stereotypen und Hass, die sich historisch und kulturell tief verankert haben.

Antizionismus ist eine Haltung, die sich gegen den Zionismus richtet – also gegen die politische Bewegung, die die Gründung und Unterstützung eines jüdischen Staates in Israel befürwortet. Er kann sowohl politische als auch ideologische Gründe haben und wird oft von Kritik am Staat Israel begleitet.

Ist die europäische Gesellschaft antisemitischer geworden?

Laut Schulze bekommt der "moderne Antisemitismus" durch diese neuen Masken mehr Aufmerksamkeit und wirke stärker, als er tatsächlich ist. "In der Gesellschaft bleibt er auf einem ähnlichen Niveau wie früher: Rund zehn bis 20 Prozent der Menschen tragen laut Studien antisemitische Haltungen in sich."

Zum Experten
Reinhard Schulze ist Islamforscher und Historiker, der sich auf die Geschichte und Kultur des Islams spezialisiert hat. Er war Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern und hat zahlreiche Publikationen zur Entwicklung des Islams in der Neuzeit verfasst. Schulzes Forschungsschwerpunkte umfassen die Modernisierung des Islams, den Nahen Osten und das Verhältnis zwischen westlicher und islamischer Welt.

Sind Muslime häufiger antisemitisch?

Eine latente Judenfeindlichkeit sei in den Herkunftsländern von Menschen mit einem Migrationshintergrund in nahöstlichen Gesellschaften prozentual etwas höher, sagt Schulze. "Unabhängig davon, ob ein christlicher oder muslimischer Hintergrund besteht."

Gibt es Unterschiede zwischen Antisemitismus in Europa und im Nahen Osten?

In Ländern des Nahen Ostens, aus denen viele Menschen, die nach Europa einwandern, stammen, sei Antisemitismus besonders stark auf Israel fokussiert. Der europäische Antisemitismus hingegen sei häufiger auf die Präsenz der Juden in den europäischen Ländern und in Amerika bezogen: "Anders als in Europa gründet der nahöstliche Antisemitismus auf einem 'Antisemitismus ohne Juden', da seit 1948 faktisch alle Juden aus arabischen Ländern ausgewandert sind", führt der Nahost-Experte aus.

Bilder: "Pogrom" gegen Juden – Ausschreitungen in Amsterdam

1/20
Gehe zur Galerie
    Rund um das Europa-League-Gastspiel von Maccabi Tel Aviv gegen Ajax Amsterdam kam es in der Nacht auf den 8. November 2024 zu gewalttätigen Ausschreitungen.
    Rund um das Europa-League-Gastspiel von Maccabi Tel Aviv gegen Ajax Amsterdam kam es in der Nacht auf den 8. November 2024 zu gewalttätigen Ausschreitungen.
    X/iAnnet via REUTERS

    Nach den heftigen Gewaltattacken gegen israelische Fußballfans vor vier Tagen kam es am Montagabend in Amsterdam erneut zu Krawallen. Dutzende vorwiegend junge Männer randalierten im Westen der Stadt. Dabei brannte es auch in einer Straßenbahn. Es soll auch zu antisemitischen Rufen gekommen sein. Über Verletzte ist nichts bekannt. Es kam zu mindestens drei Festnahmen.

    Wieso nimmt der Antisemitismus zu?

    Paradoxerweise habe die Abwesenheit der Juden in den Ländern des Nahen Ostens zu einem verstärkten Antisemitismus geführt: "Es fehlt an Berührungspunkten mit jüdischem Leben, was als Korrektiv hätte wirken können. Hinzu kommt, dass jüdische Geschichte und Kultur im Bildungssystem kaum behandelt werden." Dadurch erkannten viele Menschen aus diesen sozialen Umfeldern ihren Antisemitismus oft nicht und sehen ihn stattdessen als politisch gerechtfertigten Antizionismus oder Antiisraelismus, so Schulze.

    Woher kommt der Antisemitismus?

    Dieser Antisemitismus habe im religiösen, also auch islamischen Nationalismus ein Biotop gefunden: "Er gibt sich neue Legitimität, indem er sich als moderner, aktivistischer Antikolonialismus darstellt, in dem Palästina zum Symbol für eine antiwestliche und antikoloniale Haltung wird." Der Islam selbst werde erstaunlich selten als Rechtfertigungsfeld des Antisemitismus angeführt. "Ausnahmen finden sich bei ultrareligiösen Gruppen und extremen Formen des religiösen Nationalismus, wie etwa beim Palästinensischen Islamischen Dschihad oder der Islamischen Befreiungspartei."

    Der Antisemitismus im Nahen Osten sei meist unabhängig von religiöser Zugehörigkeit. "Der Islam spielt allerdings eine Rolle, wenn er zur Gegenwelt des Zionismus gemacht wird und zum Träger einer Kultur des 'Widerstands'", so Schulze. Der Antisemitismus bekomme in diesem Bereich langsam mehr Einfluss, weil er sich durch Kritik an Israel, Antikolonialismus und Antizionismus gegen politische, kulturelle und soziale Kritik abschirme. "Dadurch unterdrückt er gleichzeitig berechtigte Kritik, zum Beispiel an den neuen politischen Kulturen des religiösen Rechtsnationalismus in Israel, bei den Palästinensern, in der Diaspora und sogar in der Solidaritätsbewegung für Palästina."

    Zudem mobilisiere das Kriegsgeschehen im Nahen Osten nicht nur bestehende antisemitische Feindseligkeiten, sondern gebe Ihnen zusätzlich eine scheinbare Plausibilität: "Die bittere Not der Menschen in Gaza wird vor dem Hintergrund dieser Feindseligkeit schnell zu einem Scheinargument, das diesen Ressentiments einen vermeintlichen Sinn verleiht."

    Die Bilder des Tages

    1/64
    Gehe zur Galerie
      <strong>21.12.2014: Magdeburg-Terrorist war bekannter Anti-Islam-Aktivist.</strong> Der mutmaßliche Täter des Anschlags von Magdeburg erhob schwere Vorwürfe gegen Deutschland und unterstützte Frauen, <a data-li-document-ref="120079782" href="https://www.heute.at/s/magdeburg-terrorist-war-bekannter-anti-islam-aktivist-120079782">die aus Saudi-Arabien flüchteten.</a>
      21.12.2014: Magdeburg-Terrorist war bekannter Anti-Islam-Aktivist. Der mutmaßliche Täter des Anschlags von Magdeburg erhob schwere Vorwürfe gegen Deutschland und unterstützte Frauen, die aus Saudi-Arabien flüchteten.
      REUTERS

      Auf den Punkt gebracht

      • Nach den jüngsten antisemitischen Angriffen auf israelische Fußballfans in Amsterdam warnt die israelische Regierung ihre Bürger vor Reisen nach Europa und rät, Sport- und Kulturveranstaltungen mit israelischer Beteiligung zu meiden
      • Der Nahost-Experte Reinhard Schulze erklärt, dass moderne Judenfeindlichkeit oft als vermeintliche Israelkritik oder Antizionismus auftritt und in Europa sowie im Nahen Osten unterschiedliche Formen und Schwerpunkte hat
      red, 20 Minuten
      Akt.