Drei Analphabeten in Klasse
"Viele meiner Schüler verstehen einfach nur Bahnhof"
Es ist eine der größten Krisen unserer Zeit – die Lage an vielen Schulen. Besonders in Wien ist an vielen Standorten Deutsch eine "Fremdsprache".
Notstand im Klassenzimmer. Gewalt und Mobbing sind da nur zwei der Schlagworte. Immer schlimmer wird an vielen Standorten der Mangel an Deutschkenntnissen. Es ist für alle Beteiligten eine Katastrophe. Die betroffenen Schüler verpassen die wohl größte Bildungschance in ihren jungen Leben. Die anderen Kinder werden im Lernen stark eingebremst – zu sehr muss auf die langsamen Schüler Rücksicht genommen werden. Und die Lehrer sind am Verzweifeln. Es gibt unzählige Statistiken, die belegen, wie prekär die Lage mittlerweile ist.
Österreichweit ist für 27 % der Schüler Deutsch eine Fremdsprache, in Wien sogar für 51,6 % (Quelle: Integrationsfonds).
Ein Drittel kann dem Unterricht nicht folgen
Eine weitere Studie zeigt: In Wien kann ein Drittel (35,7 %) der Schulanfänger nicht genug Deutsch, um dem Unterricht zu folgen (Zahlen vom Vorjahr aus einer Anfragebeantwortung der Wiener ÖVP an den Wiener Neos-Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr).
Brisant: 66,7 Prozent dieser Schüler mit Deutschdefizit sind bereits hier geboren und 77,5 Prozent von ihnen besuchten mindestens zwei Jahre den Kindergarten.
Hinter all diesen Zahlen stecken traurige Einzelschicksale. "Heute" spricht regelmäßig mit Lehrern, sie stehen Tag für Tag vor den Betroffenen. Diese Pädagogin erlebt es wohl noch extremer als die meisten ihrer Kollegen.
Die junge Lehrerin (23) unterrichtet an einer Wiener Volksschule innerhalb des Gürtels. Hier herrscht pädagogischer Ausnahmezustand.
Sie beschreibt im Gespräch mit "Heute" ihren Alltag in der zweiten Klasse: "Ein Drittel meiner Kinder versteht nur Bahnhof, ein weiteres Drittel ist unterfordert. Nur für etwa sechs Kinder passt der Unterricht, so wie er ist."
2. Klasse Volksschule: Sechs Schüler sind sitzengeblieben
22 Kinder sitzen in ihrer Klasse. Kein einziges hat Deutsch als Muttersprache. Dennoch sind die meisten hier in Österreich geboren. Sechs der Schüler sind bereits einmal in der zweiten Volksschulklasse durchgefallen – sie müssen wiederholen.
Kaum vorstellbar für die meisten in diesem Land, bittere Realität in dieser Schule: "Drei meiner Schüler sind Analphabeten. Sie kennen keinen einzigen Buchstaben – sie können nicht einmal ihren Namen schreiben", sagt die Lehrerin, die verständlicherweise anonym bleiben will, zu "Heute".
Dann erklärt sie uns, wieso ein achtjähriges Kind in einem der reichsten Länder der Welt das Konzept von Buchstaben nicht versteht. Sie kamen im Vorjahr aus dem Ausland, hatten keine Vorkenntnisse, auch ihre Eltern beherrschen die Sprache nicht. Nur eine dieser drei Familien würde diesen Zustand gerne ändern, den anderen scheint es egal zu sein. "Es ist auch eine kulturelle Sache. In manchen Familien ist Bildung einfach nicht wichtig und das merkt man auch an der Arbeitseinstellung."
"Viele Lehrer haben selbst Sprachfehler"
Viele Lehrer schieben die Schuld an der Situation auf den Lehrermangel. Diese Pädagogin nicht. Eher auf die Auswahl der Lehrer: "Einige sind Quereinsteiger. Darunter haben wir einen Schauspieler und eine Krankenschwester. Viele von denen haben selbst Sprachfehler, die können keinen didaktisch hochwertigen Unterricht halten."
Die Frau ist bereits stark demotiviert: "Es wird immer schlimmer, es ist einfach frustrierend." Sie weiß, ein großer Teil ihrer Klasse wird das Schuljahr nicht schaffen. Einige werden wohl zum zweiten Mal durchfallen. In der 2. Klasse Volksschule.
Auf den Punkt gebracht
- Die Situation an vielen Wiener Schulen ist alarmierend, da Deutsch für viele Schüler eine Fremdsprache ist und dies zu erheblichen Bildungsdefiziten führt
- Eine junge Lehrerin berichtet von extremen Herausforderungen in ihrer Klasse, in der kein Kind Deutsch als Muttersprache hat und drei Schüler Analphabeten sind, was den Unterricht und die Bildungschancen aller Kinder stark beeinträchtigt