Ein Jahr nach Hamas-Angriff
Nahost-Experten: "Wir stehen vor dem Abgrund"
Vor einem Jahr griff die Hamas Israel an. Heute stehen die Zeichen auf noch größere Eskalation im Nahen Osten.
Am 7. Oktober 2023 griff die Hamas Israel an – ein Jahr danach droht eine noch größere Eskalation im Nahen Osten.
Die Spannungen nehmen weiter zu, sagen Nahost-Experten Marcus Schneider und Reinhard Schulze in einem Interview mit dem "Heute"-Partnerportal "20 Minuten":
Vor einem Jahr überfiel die islamistische Terrormiliz Hamas Israel. Wo stehen wir heute?
Schulze: Wir stehen vor einem Abgrund. Die gesamte Region des Nahen Ostens steht vor einer entscheidenden Phase: In den nächsten Tagen oder Wochen wird sich zeigen, ob es zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Iran und Israel kommt. Ein solcher Raketenkrieg hätte ein enormes Vernichtungspotential. Der Abgrund wird betreten, wenn es tatsächlich zu dieser direkten Konfrontation kommt. Diplomatisch muss jetzt alles getan werden, um dies zu verhindern.
Schneider: Der Nahe Osten steht am Vorabend einer noch größeren Eskalation. Das ursprüngliche Ziel, insbesondere der USA, war es, den Konflikt auf Gaza zu begrenzen. Doch jetzt haben wir auch Krieg im Libanon. Die Reaktion Israels auf den jüngsten iranischen Angriff bleibt abzuwarten. Es besteht die Gefahr eines Flächenbrandes. Die Situation ist schwer vorherzusehen, aber die Eskalation, die wir in den letzten Monaten gesehen haben, weitet sich immer weiter aus.
BILDER: Hamas-Horror auf Musikfest in Israel (7. Oktober 2023)
Gibt es noch Hoffnungen auf eine Deeskalation?
Schulze: Die Initiativen von Jordanien und Saudi-Arabien sollten ernst genommen werden. Konkret: Ihre maximale Förderung einer Zwei-Staaten-Lösung. Beide Länder bieten an, ein politisches Primat gegenüber einem militärischen zu setzen, was den Palästinensern die Möglichkeit bietet, politische Souveränität zu erlangen. Dies könnte durch Verhandlungen mit Israel und die Zusammenarbeit mit lokalen Eliten geschehen, um langfristige Friedenslösungen zu schaffen. Es geht darum, einen stabilen und dauerhaften Frieden herzustellen, indem man auch bisher schwierige Kooperationen in Betracht zieht – etwa zwischen Israel und Saudi-Arabien. Zentral ist dabei die klare Trennung von politischen und militärischen Agenden. Auch wenn die politischen Systeme der beteiligten Länder nicht von sich aus Friedensordnungen garantieren können, steckt in den aktuellen Bemühungen mehr Potenzial, als man auf den ersten Blick vermuten mag.
„Bei Israel/Palästina geht es vor allem um eine menschliche Dimension. Da ist sehr viel kaputt. Die Versöhnung wird dort noch länger dauern.“
Schneider: Im Moment bin ich eher pessimistisch. Die einzige Nation, die die Lage eindämmen könnte, sind die USA. Aber die sind aufgrund der anstehenden Wahlen politisch nicht voll einsatzfähig. Zudem haben sie trotz rhetorischer Bekenntnisse zu einem Waffenstillstand in der Vergangenheit nicht den Druck entfaltet, die Verlängerung und Ausweitung des Konflikts zu stoppen. Wenn die Amerikaner nicht fähig sind, einzugreifen, und weiterhin Waffen liefern, dann ist wenig Grund zum Optimismus vorhanden. Hinzu kommt, dass die derzeitigen Akteure – wie Netanjahu in Israel, der eher auf Eskalation setzt, und die Mullahs im Iran, die den großen Krieg zwar nicht wollen, ihn aber gleichzeitig offen riskieren – kaum vertrauenswürdige Staatsmänner sind, die eine Lösung suchen. Meiner Meinung nach müsste seitens der USA oder des Westens sehr viel stärker auf einen Waffenstillstand gedrängt werden – was auch bedeutet, Israel stärker unter Druck zu setzen.
BILDERSTRECKE – Mullah-Raketen: So brutal war Iran-Angriff auf Israel
Wie sieht die Situation heute in einem Jahr aus?
Schulze: Das kann ich beim besten Willen nicht beantworten. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Aber optimistisch wäre ich in dieser Hinsicht nicht.
Schneider: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass der Kriegszustand im Libanon sich verstetigt und wir eine Situation wie im Gazastreifen erleben. Der Süden Libanons könnte enorme Zerstörungen erleiden, und auch Beirut wäre betroffen. Es wird Flüchtlingswellen geben. Eine Ausweitung des Konflikts auf Iran wäre ein sehr düsteres Szenario. Iran ist zwar militärisch deutlich schwächer als Israel und die USA, das Regime hat allerdings enormes Schadenpotenzial. Zum Beispiel, was die Ölförderinfrastruktur im Golf angeht. Der Ölpreis könnte explodieren. Man darf auch nicht vergessen, dass Russland in Syrien präsent ist, und einem Krieg mit Iran nicht einfach nur zusehen dürfte.
Die Bilder des Tages
Auf den Punkt gebracht
- Ein Jahr nach dem Angriff der Hamas auf Israel warnen Nahost-Experten vor einer noch größeren Eskalation im Nahen Osten, die zu einem direkten militärischen Konflikt zwischen Iran und Israel führen könnte
- Während einige Initiativen zur Deeskalation Hoffnung bieten, bleibt die Lage aufgrund politischer Unsicherheiten und der Rolle der USA äußerst angespannt und schwer vorhersehbar