Gesundheit
Wundermittel Ozempic – erstes Medikament gegen Süchte?
Zuletzt häuften sich US-Berichte, dass Patienten, die das Medikament Ozempic einnehmen, plötzlich von ihren Süchten und Zwängen befreit wurden.
Als Medikament zur Behandlung von Diabetes und Übergewicht haben die Präparate Ozempic und Wegovy ihre Wirksamkeit bereits bei unzähligen Patientinnen und Patienten bewiesen. Doch der Wirkstoff Semaglutid, der in beiden Medikamenten enthalten ist, scheint noch mehr zu können. Immer mehr Personen, die Semaglutid einnehmen, berichten davon, dass sie plötzlich keine Lust mehr auf Alkohol oder Shopping hatten oder aufhörten, an ihren Nägeln zu kauen.
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Ein 43-jähriger Patient erzählte dem US-Nachrichtenportal Insider.com, dass er an geselligen Anlässen regelmäßig acht bis zehn Gläser Bier trank, weil es für ihn einfach dazugehörte. Das änderte sich 2021, als er aus gesundheitlichen Gründen Ozempic verschrieben bekam. Seither habe er nach zwei Bier schlicht keine Lust mehr auf mehr. Von einer anderen Sucht befreite Semaglutid eine Frau, die aus einem inneren Zwang regelmäßig für Hunderte Dollar Bio-Lebensmittel kaufte, nur um sie nachher wegzuwerfen. Dann wurde ihr zum Abnehmen Wegovy verschrieben. Und während die Kilos purzelten, war auch die Lust am Einkaufen verschwunden. Sie sei jetzt das erste Mal in ihrem Leben frei von all ihren Süchten und Zwängen, erklärte sie auf Theatlantic.com.
Der Wirkstoff Semaglutid
Semaglutid ist wie das bereits länger verwendete Liraglutid ein sogenannter GLP-1-Rezeptor-Agonist. Das Peptidhormon veranlasst die Bauchspeicheldrüse, Insulin zu produzieren, weshalb es zuerst zur Behandlung von Diabetes eingesetzt wurde. Dass es auch zur Gewichtsabnahme führt, kam damals unerwartet. In der Schweiz ist Semaglutid unter den Handelsnamen Ozempic und Rybelsus als Diabetesmedikament und unter dem Handelsnamen Wegovy als Schlankheitsmittel zugelassen, wobei Wegovy aufgrund von Lieferengpässen noch nicht auf dem hiesigen Markt verfügbar ist. Die Medikamente sind verschreibungspflichtig.
Die Häufung solcher Berichte hat Suchtforschende aufhorchen lassen. Seit Jahren wird daran geforscht, ob ähnliche Wirkstoffe wie Semaglutid das Verlangen nach Alkohol, Kokain, Nikotin oder Opioiden drosseln könnten. Die Resultate aus Tierversuchen seien vielversprechend, wie der Psychiater Christian Hendershot, von der University of North Carolina auf Theatlantic.com erklärte.
Wirkung auf das Belohnungssystem im Gehirn
Weshalb Wirkstoffe aus der Gruppe der GLP-1-Analoga diesen unerwarteten Nebeneffekt haben, ist allerdings noch nicht abschliessend geklärt. Einerseits erhöhen Wirkstoffe wie Semaglutid das Sättigungsgefühl im Magen wie auch im Kopf. Andererseits gehen Forschende davon aus, dass sie auch auf das neuronale Belohnungssystem im Gehirn einwirken. Sie dämpfen den Kick, den der Glücksbotenstoff Dopamin im Hirn auslöst, wenn man fettige Pommes oder einen alkoholischen Drink zu sich nimmt, wie der Psychiater und Suchtspezialist Joseph Volpicelli auf Insider.com ausführte. «Genussvolle Dinge sind kein Genuss mehr», bringt es der Mediziner auf den Punkt.
Wirkung noch zu wenig erforscht
Doch was in Tierversuchen funktioniert, lässt sich nicht eins zu eins auf Menschen übertragen. Noch gibt es kaum Studien, in denen die Wirkung von GLP-1-Analoga in Bezug auf das Suchtverhalten bei Menschen untersucht wurde. Eine Studie aus Dänemark zeigte, dass übergewichtige Testpersonen bei einer Behandlung mit Exenatid, einem mit Semaglutid verwandten Wirkstoff, und einer Therapie deutlich weniger Alkohol tranken, als Personen, die eine Therapie machten, aber nur ein Placebo bekamen. Gleichzeitig zeigten Scans, dass bei Personen, die Exenatid bekamen, die für Suchtverhalten zuständigen Hirnareale im Zusammenhang mit Alkohol weniger aktiviert wurden.
Forschende beurteilen die Ergebnisse als vielversprechend. Doch es ist noch ein langer Weg, bis GLP-1-Analoga, wenn überhaupt, für die Suchttherapie eingesetzt werden können. Zuvor brauche es weitere Studien, um zu klären, ob Medikamente wie Wegovy sich zur Behandlung von Süchten und Zwängen eignen, so die Forschenden.
Kommt dazu, dass Semaglutid Nebenwirkungen wie Stuhlgangveränderungen, Bauchschmerzen, Gallensteinentwicklung oder Übelkeit haben kann, wie Prof. Bernd Schultes, Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie & Diabetologie am Stoffwechselzentrum St. Gallen, 20 Minuten sagte. Zudem fehlen Langzeitdaten, wie das Deutsche Ärzteblatt schreibt. Das ist auch im Bezug auf ein mögliches Krebsrisiko ein nicht zu vernachlässigender Faktor bei einem Medikament, das man lebenslang einnehmen muss.