Gesundheit

Wow! Komplett Gelähmter kann damit wieder kommunizieren

Mit der Hilfe von im Gehirn implantierten Elektroden hat ein gelähmter ALS-Patient eine einfache Form der Kommunikationsfähigkeit zurückerlangt.

Sabine Primes
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Zwei Mikroelektroden-Geräte mit jeweils 3,2 mm wurden in die Oberfläche des motorischen Kortex eingeführt – dem Teil des Gehirns, der für Bewegungen verantwortlich ist. Jedes Array hat 64 nadelartige Elektroden, die neuronale Signale aufzeichnen.
Zwei Mikroelektroden-Geräte mit jeweils 3,2 mm wurden in die Oberfläche des motorischen Kortex eingeführt – dem Teil des Gehirns, der für Bewegungen verantwortlich ist. Jedes Array hat 64 nadelartige Elektroden, die neuronale Signale aufzeichnen.
Wyss Center

Forscher des Wyss Center for Bio and Neuroengineering haben in Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen in Deutschland einer vollständig gelähmten Person, die nicht sprechen kann, ermöglicht, über eine implantierte Gehirn-Computer-Schnittstelle (BCI) zu kommunizieren. Die klinische Fallstudie läuft seit mehr als zwei Jahren mit dem Teilnehmer, der an fortgeschrittener amyotropher Lateralsklerose (ALS) leidet – einer fortschreitenden neurodegenerativen Erkrankung, bei der Menschen die Fähigkeit verlieren, sich zu bewegen und zu sprechen. Die Ergebnisse zeigen, dass eine Kommunikation mit Personen möglich ist, die aufgrund von ALS vollständig eingesperrt sind. Die Studie wurde jetzt in Nature Communications veröffentlicht.

Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine unheilbare, schwere Erkrankung des Nervensystems. Es werden dabei zunehmend vor allem motorische Nervenzellen (Motoneuronen) geschädigt – also Nervenzellen, die für die Kontrolle und Steuerung von Muskeln und Bewegungen zuständig sind.
ALS hat nichts mit MS (Multiple Sklerose) zu tun, es handelt sich um zwei völlig unterschiedliche Erkrankungen.

Bei klarem Verstand im gelähmten Körper gefangen

Einige ALS-Patienten können durch Blinzeln oder Augenbewegungen kommunizieren, aber diejenigen mit dem "Completely Locked-in-Syndrom (CLIS) können nicht einmal ihre Augenmuskeln kontrollieren, weshalb andere Kommunikationshilfen versagen. Denn eine Möglichkeit ist, mit Kameras die Augenbewegung aufzeichnen und diese mit einer Software in Sprache zu übersetzen. Ein solches System nutzte etwa der berühmte Physiker Stephen Hawking, der auch von ALS betroffen war. Das war bei dem Studienteilnehmer jedoch nicht möglich. Bei klarem Verstand war er in seinem gelähmten Körper gefangen – eine Horrorvorstellung.

Das Locked-in-Syndrom (engl.; dt. Eingeschlossensein- bzw. Gefangensein-Syndrom) bezeichnet einen Zustand, in dem ein Mensch zwar bei Bewusstsein, jedoch körperlich fast vollständig gelähmt und unfähig ist, sich sprachlich oder durch Bewegungen verständlich zu machen.
Das Locked-in-Syndrom ist vom Wachkoma abzugrenzen, da das Bewusstsein des Patienten größtenteils erhalten bleibt. Er ist meist genauso aufnahmefähig wie ein Gesunder. Er kann alles in seiner Umgebung hören und verstehen, kann sich aber nicht auf herkömmliche Weise mitteilen.

Kommunizieren mittels Hirn-Computer-Schnittstelle

Der Patient in der neuen Studie (bekannt als Patient K1) hatte bis Ende 2015 die Fähigkeit, zu gehen und zu sprechen, verloren. Er begann im folgenden Jahr mit der Verwendung eines Eye-Tracking-basierten Kommunikationsgeräts, konnte seinen Blick jedoch schließlich nicht mehr gut genug fixieren, um es zu verwenden, und war auf „Ja“- oder „Nein“-Kommunikation beschränkt. In der Erwartung, dass er in naher Zukunft wahrscheinlich die gesamte verbleibende Augenkontrolle verlieren und in einen vollständig eingeschlossenen Zustand übergehen würde, bat er seine Familie, ihm zu helfen, einen alternativen Weg zu finden, um mit ihnen zu kommunizieren.

Die Familie von Patient K1 wandte sich an zwei der Autoren der Studie, Dr. Niels Birbaumer vom Institut für Medizinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie der Universität Tübingen in Deutschland, und Dr. Ujwal Chaudhary von der gemeinnützigen Organisation ALS Voice in Mössingen (Deutschland).

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    Sabine Hertel

    Im gegenwärtigen Fall implantierten die Ärzte zwei 3,2 Millimeter große BCIs, Hirn-Computer-Schnittstellen, in den Teil des Gehirns des Mannes zu implantieren, der für die Planung und Kontrolle willkürlicher Bewegungen zuständig ist. Da er seine Augenbewegungen noch kontrollieren konnte, war er in der Lage, dem Eingriff zuzustimmen. Seit 2018 ist er vollständig "locked-in".

    Invasive BCIs sind kleine, im Gehirn chirurgisch implantierte Geräte, die mit Elektroden Hirnströme aufzeichnen und in Steuersignale umwandeln.

    "Jungs, es funktioniert so mühelos"

    Da die Kommunikation mit Patienten in einem vollständigen "Locked-In Syndrom " bisher nicht möglich war, wusste das Team nicht, ob das System für Patient K1 funktionieren würde oder nicht. Tatsächlich "glaubte niemand, dass Kommunikation mit  vollständigem Locked-in möglich ist", sagte Birbaumer gegenüber WordsSideKick.com.

    Dennoch konnte Patient K1 etwa 3 Monate nach der Operation das Neurofeedback erfolgreich zur Steuerung der Gehirn-Computer-Schnittstelle einsetzen. Etwa einen halben Monat später fing er an, Buchstaben auszuwählen und Wörter und Sätze zu buchstabieren, dankte schließlich sogar den Autoren und buchstabierte: "Jungs, es funktioniert so mühelos."

    Auditives Neurofeedback

    Das System arbeitet mit "auditivem Neurofeedback", was bedeutet, dass der Patient die Frequenz seiner Gehirnwellen an einen bestimmten Ton, ein bestimmtes Wort oder einen bestimmten Satz "anpassen" musste. Durch Anpassen und Halten der Frequenz auf einem bestimmten Niveau (für 500 Millisekunden) konnte er eine positive oder negative Reaktion des Systems erzielen – entweder "Ja" und "Nein". Indem ein Programm laut Buchstaben vorliest, konnte der Studienteilnehmer bejahen oder verneinen, ob er den entsprechenden Buchstaben verwenden möchte. So gelang es ihm, im Schnitt ein Zeichen pro Minute zu bilden. Das System erfordert immer noch eine ständige Überwachung, da es sonst zu technischen Fehlern kommen kann.

    "Diese Studie hat auch gezeigt, dass das System unter Einbeziehung von Angehörigen oder Pflegekräften grundsätzlich auch zu Hause eingesetzt werden kann. Dies ist ein wichtiger Schritt für Menschen mit ALS, die außerhalb des Krankenhausumfelds betreut werden", sagt George Kouvas, CTO des Wyss Center.

    Sicherheit des Implantats muss noch geprüft werden

    In prä-klinischen Tierstudien soll die Sicherheit eines solchen Implantats geprüft werden. Das beim ALS-Studienteilnehmer verwendete ist über einen Stecker und ein Kabel mit dem Computer verbunden. "Der Stecker stellt ein Infektionsrisiko dar, weil die Wunde ständig offen bleiben muss", sagte Zimmermann.