Die israelische Psychoanalytikerin Ofrit Shapira-Berman ist Traumaexpertin an der Hebräischen Universität Jerusalem. Am 7. Oktober 2023 reagierte sie nur wenige Stunden nach den Hamas-Terrorattacken, um den Opfern zu helfen. Heute leitet sie die Stiftung First Line Med Anatta und behandelt Überlebende, Geiseln und Angehörige. "Heute" sprach mit der Spezialistin über die Geiseln, deren Familien und über die Chance derjenigen, die freikommen, wieder in ein normales Leben zurückzufinden.
Mehr als 500 Tage als Geisel – was macht diese Erfahrung mit den Menschen?
Ich wünschte, ich könnte optimistisch sein, aber ich fürchte, für viele von ihnen, abhängig natürlich von den spezifischen Bedingungen ihrer Gefangenschaft, ist dies eine Erfahrung, die so extrem ist, dass sie die Menschen an den Rand des Wahnsinns bringt. Viele von ihnen wurden angeschossen oder verwundet und erhielten, wenn überhaupt, nicht die richtige medizinische Versorgung. Sie alle mussten und jene, die noch gefangen gehalten werden, müssen weiterhin Hunger leiden. Diejenigen, die in den Tunneln festgehalten wurden und werden, hatten und haben kein Licht und wenig Sauerstoff. Unter solch extremer Grausamkeit entwickeln die Geiseln tiefe, schwere Depressionen, verlieren die Hoffnung und müssen in einen Zustand fast vollständiger "Abschaltung" geraten, um zu überleben.
Mit wie vielen befreiten Geisel, Familienmitgliedern und Überlebenden des 7. Oktober behandeln sie?
Wir haben 450 Psychoanalytiker in unserer Organisation, die mit ein paar Hundert Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und älteren Menschen arbeiten, die alle entweder das Massaker vom 7. Oktober überlebt haben oder entführt und freigelassen wurden. Aber auch Familienmitglieder der Ermordeten oder Freigelassenen oder jene, die Familienmitglieder haben, die noch in Gaza festgehalten werden, sind bei uns in Behandlung. Wir können jedoch nicht allen helfen, viele andere werden anderswo behandelt. Einige sind jedoch immer noch nicht in der Lage, überhaupt Hilfe anzunehmen.
„Nicht in der Lage, jemandem zu vertrauen.“
Warum nicht?
Weil sie so traumatisiert sind, dass sie immer noch nicht willens oder in der Lage sind, jemanden zu vertrauen, dass er ihnen helfen kann. Außerdem mangelt es an Ressourcen, Geld und Personal. Es gibt nicht genug Therapeuten, um allen Menschen zu helfen, die Hilfe brauchen.
Was haben Ihnen die freigelassenen Geiseln erzählt?
Sie mussten alle Hunger leiden, keiner erhielt medizinische Hilfe. Diejenigen, die operiert werden mussten, wurden entweder von Tierärzten oder gar nicht operiert. Es wurden keine Betäubungsmittel verwendet und sie durften während der Operation keinen Mucks von sich geben.
Wie schlimm ist der Zustand der freigelassenen Geiseln?
Einige von ihnen kehrten mit sehr komplizierten Krankheit zurück, die monatelange Krankenhausaufenthalte und zahlreiche Operationen erfordern. Alle erlitten psychischen Missbrauch, viele wurden auch körperlich misshandelt und einige sexuell missbraucht.
„Alle erlitten psychischen Missbrauch, viele wurden auch körperlich misshandelt und einige sexuell missbraucht.“
Die Bedingungen waren extrem und es bestand ständige Gefahr für ihr Leben. Wir wissen, dass sich die Bedingungen im Laufe der Zeit verschlechtert haben und dass diejenigen, die immer noch in Gaza festgehalten werden, in realer, unmittelbarer Lebensgefahr sind.
Werden sie in der Lage sein, sich vollständig von diesem Trauma zu erholen – insbesondere jene, die körperlich und sexuell misshandelt wurden?
Das ist eine sehr gute Frage und schwer zu beantworten. Das hängt nicht nur davon ab, welche Art von Missbrauch sie erlitten haben, es hängt auch von ihrem persönlichen Leben vor dem 7. Oktober ab. Aus deinem Bett, deinem Zuhause oder einer Party gerissen zu werden und an einen Ort gebracht zu werden, der als die Hölle wahrgenommen wird, ein Ort, an dem du gehasst und missbraucht wirst, dein Leben in ständiger Gefahr ist, davon kann man sich nur schwer erholen. Ganz zu schweigen davon, dass diese Menschen am 7. Oktober 2023 einen neuen Holocaust erlebt haben. Sie alle werden lebenslang Narben davontragen, und ihr Trauma, das aus endlosen Teilchen besteht, wird im Laufe ihres Lebens durch unzählige Variablen ausgelöst. Aber sie haben auch Stärken, die hoffentlich ausreichen werden, um sie durchs Leben zu tragen, auf eine Weise, die es ihnen ermöglicht, zu lieben, zu träumen und wieder zu hoffen. Es wird viel harte Arbeit erfordern, und ich denke, dass viele von ihnen, vor allem die jungen Erwachsenen, sich noch nicht bewusst sind, wie tiefgreifend die Auswirkungen ihres Traumas auf sie sind.
Was ist der Kern Ihrer Therapie für die Betroffenen?
Im Gegensatz zur "normalen" Psychoanalyse oder anderen Behandlungsmethoden ist die Behandlung der freigelassenen Geiseln anders. Ich, als Psychoanalytikerin, die sich auf Traumata spezialisiert hat, wünsche mir, dass meine Patienten nicht nur "funktionieren", so wichtig das auch ist. Ich wünsche mir, dass sie wieder lieben und vertrauen können, dass sie Träume und Leidenschaft haben und dass sie alles genießen können, was es im Leben zu genießen gibt. Das Leben beinhaltet immer Schmerz, aber die Frage ist, ob wir ihn eindämmen und mit ihm oder aus ihm wachsen können. Jedoch sagen ALLE freigelassenen Geiseln, ohne Ausnahme, dass sie nicht heilen können, bis nicht alle wieder da sind. Ich kann das aus meiner persönlichen Erfahrung bei der Behandlung einer der freigelassenen Geiseln bezeugen. SIE KÖNNEN NICHT GESUND WERDEN, SO LANGE NICHT ALLE WIEDER ZURÜCK SIND. Es ist einfach nicht möglich.
