Reporterin in Damaskus
Syrische Christin: "Die Islamisten sind bisher nett"
In Syrien herrscht immer noch Euphorie über den Sturz Assads. Eine Schweizer Reporterin wagt einen Lokalaugenschein im Damaszener Christenviertel.
Im Damaszener Viertel Bab Tuma läuten die Kirchenglocken – auf Geheiß von Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Die Islamisten sind derzeit auf Kuschelkurs mit der Bevölkerung. Noch ist die Freude der Menschen in der syrischen Hauptstadt überall zu spüren, ebenso wie die Wut auf das gestürzte Assad-Regime.
Die Schweizer Reporterin Ann Guenter nimmt Leser mit auf einen Rundgang durch das Christenviertel von Damaskus – inklusive Tipp, wo es die besten Schawarmas gibt:
"Wissen Sie, dass ich 13 Jahre darauf gewartet habe, hier zu essen? Hier gibt es die besten Schawarma, das weiß man in ganz Syrien. Und jetzt ist es so weit. Ich komme jetzt jeden Tag hierher, bevor ich mit meinem Mann in zwei Wochen wieder nach Kanada zurückreise." Amal (42) erzählt unaufgefordert, während alle in der Schlange am Stand "al Burj" auf die heiße Köstlichkeit warten. Es ist abends um acht Uhr im Damaszener Christenviertel Bab Tuma und die Straßen sind gerammelt voll.
Bilder: Ann Guenter berichtet aus Damaskus
Die Ausgangssperre, die seit dem Sturz des Regimes von Präsident Baschar al-Assad in der syrischen Hauptstadt von Mitternacht bis fünf Uhr morgens galt, ist mittlerweile aufgehoben worden. Die Leute kaufen ein, unterhalten sich und lachen bleiche Westler wie die "20 Minuten"-Reporterin schon von weitem an. "Wir sind frei, endlich frei! Inschallah wird Syrien jetzt endlich eine Zukunft haben", sagen hier viele.
Am Abend nur noch die Hälfte
Die nationale Euphorie ist nicht verflogen – in einem Land, das nach fünf Jahrzehnten der Herrschaft der Assad-Familie isoliert und traumatisiert ist: Familien wurden durch den Bürgerkrieg 2011 auseinandergerissen, das Schicksal von Zehntausenden bleibt unklar, Zensur und Terror haben die Gesellschaft vollkommen durchdrungen, Angst und Trauer sind tief verwoben im syrischen Selbstverständnis. Auch die Wirtschaft ist am Boden zerstört und die syrische Lira im freien Fall. So kommt es auch, dass man am Nachmittag für umgerechnet vier Franken wunderbar essen kann – und am Abend für das genau gleiche Mahl nur noch die Hälfte zahlt.
Die Wut auf das Regime ist so groß wie die Hoffnung auf eine neue Zukunft. Das zeigt sich an herabgerissenen Assad-Porträts oder zerstörten Statuen. Stehengelassene Militärfahrzeuge und Polizeiwagen mit eingeschlagenen Scheiben sind zu sehen.
HTS-Islamisten auf Kuschelkurs
Und immer wieder die bärtigen Islamisten der Hayat Tahrir al-Sham, die bewaffnet auf den Straßen patrouillieren. Die neuen Machthaber versprechen, das Land in eine neue Zukunft zu führen. Sie sind derzeit auf Schmusekurs mit der Bevölkerung. Sie haben offenbar die Kirchen in den Christenvierteln von Damaskus angewiesen, ihre Glocken zu läuten. In Syrien sollen die Religionen nebeneinander friedlich existieren, man baue mit allen zusammen ein neues Land auf. Tatsächlich sind jetzt in Bab Tuma seit einigen Tagen jeweils zu Mittag Kirchenglocken zu vernehmen. Alle Marienstatuen in den Straßen sind unangetastet.
Die bärtigen Männer, viele von der Provinz Idlib kommend, winken einem aus Fahrzeugen mitunter freundlich zu – auch Ausländerinnen ohne Kopftuch. Doch es ist auch zu vernehmen, dass sich einige ungehörig aufführen und Frauen betatschten. "Die Islamisten sind bisher sehr nett", sagt Abeda (31), eine syrische Christin. "Ich hoffe, alle werden sich an die Gesetze halten und aufhören zu kämpfen. Ich hoffe, alle Welt kommt jetzt hierher, um unser schönes Syrien zu sehen." Man kann den Menschen in Syrien nur wünschen, dass diese "Honeymoon-Phase" möglichst anhält.
Auf den Punkt gebracht
- Im Damaszener Viertel Bab Tuma läuten die Kirchenglocken – auf Geheiß von Hayat Tahrir al-Sham (HTS).
- Die Islamisten sind derzeit auf Kuschelkurs mit der Bevölkerung.
- Noch ist die Freude der Menschen in der syrischen Hauptstadt überall zu spüren, ebenso wie die Wut auf das gestürzte Assad-Regime.
- Ein Rundgang durch das Christenviertel – inklusive Tipp, wo es die besten Schawarmas gibt.
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