"Von Angriffen ausgehen"
Osint-Analyst: Putin wird nach Ukraine nicht aufhören
Osint-Analyst Emil Kastehelmi ist ein gefragter Militärexperte. Er befürchtet, Wladimir Putin wolle mehr als nur die Ukraine unter Kontrolle bringen.
Emil Kastehelmi (29) ist ein finnischer Militärhistoriker und "Osint"-Experte. Der Begriff stammt aus der Welt des militärischen Nachrichtenwesens und steht für "Open Source Intelligence" - Informationen aus frei verfügbaren, offenen Quellen. Kastehelmi warnt im Interview mit "20 Minuten" vor Verhandlungen mit Russland, spricht über das russische Sicherheitsbedürfnis und die nukleare Bedrohung.
Emil, wie kommen Sie als Osint-Analyst an Informationen?
Wir sammeln verschiedene Quellen, etwa sogenannte "open sources" wie Geolokationen aus Videos und Bilder, die von der Front und der Umgebung gepostet werden. Dann schauen wir uns lokale Medien an, die offiziellen Verlautbarungen ukrainischer Offizieller oder auch nur Gerüchte. Auch kaufen wir hochauflösende Satellitenbilder. Sie sind ein großer Teil unserer Arbeit. Daraus ergibt sich ein Gesamtbild für unsere Analysen. Wir konzentrieren uns insbesondere auf die Ukraine. Denn alles, was dort passiert, wirkt sich auf die finnische Sicherheitslage aus.
Wie wirkt sich der Krieg auf die finnische Sicherheit aus?
Russland führt ständig verschiedene Operationen gegen Finnland. Seit dem Krieg gegen die Ukraine wurden diese intensiviert. Neben zahlreichen Cyberangriffen kommt es jetzt auch zur sogenannten waffengestützten Migration, bei der viele Migranten an die finnischen Grenzen gelotst werden. Es ist die gleiche Taktik, die wir auch in anderen Teilen Europas sehen, etwa an den polnischen Grenzen. Dazu gibt es Sabotageoperationen, etwa gegen kritische Infrastruktur wie Einbrüche in Wasseraufbereitungsanlagen.
Viele wollen Verhandlungen mit Moskau. Wie sehen Sie das als Nachbar Russlands?
Würde man jetzt Verhandlungen aufnehmen, wäre das keine faire Lösung. Die Ukraine würde viele wichtige Landflächen und Städte verlieren. Und die Botschaft an die Russen wäre, dass sie die europäische Sicherheitsarchitektur mit Gewalt und Überfällen gegen andere Länder so beeinflussen können, wie es ihnen passt. Würden jetzt Verhandlungen aufgenommen, wäre es auch sehr unwahrscheinlich, dass die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine verfolgt würden. Aktuell würde ein Friede wohl lediglich zu weiteren Krisensituationen führen.
Kaum jemand hält es für möglich, dass Russland einen Krieg mit Westeuropa beginnen würde.
Wieso sollte Russland nach der Ukraine Halt machen, wenn es doch dort Erfolg hatte? Wir wissen, dass Russland Ambitionen hat, die über die Ukraine hinausgehen – auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass es einen konventionellen Krieg gegen Nato-Länder beginnen würde. Doch wir können von weiteren Sabotage-Operationen und noch aggressiveren Angriffen ausgehen, die den europäischen Ländern in der Nato und der EU schaden werden.
Wieso denken Sie, dass Moskau mehr "Appetit" hat, als viele denken?
Wir sehen es zum Beispiel in Moldawien: Russland hat dort in der Region Transnistrien immer noch Truppen – und macht keine Anstalten, diese abzuziehen und das transnistrische Gebiet, das international nicht anerkannt ist, aufzulösen. Vielmehr unterstützt es weiter den Separatismus in Moldawien. Auch in Georgien hält Russland immer noch Gebiete und nimmt großen Einfluss auf die internen Angelegenheiten dieses souveränen Landes. Und natürlich gilt das auch für die Ukraine: Russland will keine souveräne Ukraine, die eigene sicherheitspolitische Entscheidungen trifft. Russland will seine eigene Einflusssphäre schaffen. Darin sind sich die meisten Analysten einig: Solange Russland denkt, dass es seine Position durch Krieg statt durch Diplomatie verbessern kann, wird es auf Gewalt setzen.
Russland schützte mit dem Angriff auf die Ukraine seine Grenzen gegen die Nato-Ostererweiterung - was sagen Sie dazu?
Die Souveränität der Länder sollte unantastbar sein. Wenn ein Land der Nato beitreten will, ist das seine eigene, souveräne Entscheidung. Russland hat absolut kein Recht, die inneren Angelegenheiten eines Landes in irgendeiner Weise zu diktieren, auch wenn das die russische Sicherheits- und Außenpolitik tangieren sollte. Moskau hat auch Finnland bedroht und wollte sich in die sicherheitspolitischen Fragen einmischen. Aber die russischen Grenzen enden an den russischen Grenzen. Und wir alle wissen, dass die Nato keine wirklichen Ambitionen an einem konventionellen Konflikt mit Russland hat. Niemand interessiert sich für russischen Boden. Und dass mehr Länder in der Nähe der russischen Grenzen der Nato beitreten, bedeutet allein, dass Russland keine konventionellen Operationen gegen diese Länder durchführen kann.
Bildstrecke: Putin lässt Truppen umfassenden Atomschlag trainieren
Dennoch kritisieren einige Analysten: Man habe dem russischen Sicherheitsbedürfnis zu wenig Rechnung getragen. Was sagen Sie dazu?
Es gibt keinen legitimen Grund für Russland, sich in irgendeiner Weise bedroht zu fühlen. Es geht um die Vorstellung, dass Russland – eines der größten und militärisch stärksten Länder Europas – sich irgendwie von einem Haufen Länder bedroht fühlt, die für eine konventionelle Kriegsführung gar nicht geeignet sind. Sie haben dazu weder die Ressourcen noch den politischen Willen. Und warum sollten europäische Länder einen Krieg gegen eine Atommacht beginnen wollen? Es gibt also keine militärische Macht, die Russland und auch die USA ernsthaft bedrohen würde. Das ist nur Einbildung.
Wie sehen Sie die nuklearen Drohungen Russlands: Bluff oder Ernst?
Die jüngsten Ergänzungen der russischen Nukleardoktrin sind ein Signal an die westlichen Länder. Es ist unwahrscheinlich, dass Russland einen Atomkrieg beginnen will, denn ausserhalb der Ukraine gibt es nicht wirklich viele Dinge, die es damit erreichen könnte. Es würden sich allein wichtige strategischen Partner wie China abwenden. Die Russen erreichen also nichts, und so bluffen sie. Selbst wenn wir berücksichtigen, dass Entscheidungen nicht unbedingt nach logischen Gesichtspunkten getroffen werden – ich halte es trotzdem für sehr unwahrscheinlich, dass die Russen den Krieg zu einem Atomkrieg eskalieren wollen. Im Moment erreichen sie ihre Ziele auch so.
Wenn es nicht die Angst vor einer russischen nuklearen Antwort ist, wieso unterstützt der Westen die Ukraine dann nicht entschlossener?
Es fehlt der politische Wille. Denn wie viel Geld sind wir bereit, für die Ukraine auszugeben? Auch fehlen die Produktionsmöglichkeiten. Doch im Grunde gibt es immer noch eine Menge Ausrüstung, die westlichen Länder in die Ukraine schicken könnten, um sie zu stärken. Aber es geht auch darum, dass Russland in der Lage ist, an anderen Orten der Welt Dinge zu tun, die sich gegen westliche Interessen richten. Moskau kann etwa Waffen oder Technologie mit Dritten teilen, die Interessenkonflikte mit dem Westen haben. Es könnte etwa den Huthis Raketen liefern.
Emil Kastehelmi
Emil Kastehelmi (29) ist für die finnische Sicherheitsfirma Black Bird Group tätig. Während seines Dienstes als Nachrichtenoffizier in der Karelischen Brigade kam er erstmals mit Open-Source-Informationen in Berührung. 2014 trat Kastehelmi als Leutnant der Reserve bei, danach begann er ein Studium der Politikwissenschaften an der Uni Turku. Seit dem Krieg gegen die Ukraine leitet Kastehelmi als Sonderredakteur der finnischen Zeitung Iltalehti eine wöchentliche Sendung zu dem Thema. Darüber hinaus arbeitet Kastehelmi an einem neuen Sachbuch und hält Vorträge über den Krieg in der Ukraine und "Open Source Intelligence".
Auf den Punkt gebracht
- Der finnische Militärhistoriker und Osint-Analyst Emil Kastehelmi warnt davor, dass Wladimir Putin nicht nur die Ukraine, sondern auch andere Länder unter russische Kontrolle bringen will
- Er betont, dass Verhandlungen mit Russland derzeit keine faire Lösung wären und dass Russland weiterhin aggressive Operationen gegen europäische Länder durchführen könnte, um seine Einflusssphäre zu erweitern