Gesundheit

Als Kind missbraucht – jetzt hat sie 2.681 Identitäten

Um die Folter und den Missbrauch durch ihren Vater zu überleben, schafft sich Jeni Haynes als Kind 2.681 Persönlichkeiten – und hat sie bis heute.

Sabine Primes
Jeni Haynes ist heute 52 Jahre alt und hat einen Doktortitel und einen Master in Kriminologie und Psychologie.
Jeni Haynes ist heute 52 Jahre alt und hat einen Doktortitel und einen Master in Kriminologie und Psychologie.
Facebook/Jeni Haynes

Die Kinderporno-Affäre von Schauspieler Florian Teichtmeister wird momentan heftig diskutiert. Der 43-Jährige hat von 2008 bis August 2021 58.000 Bilder von sexuell missbrauchten Kindern auf insgesamt 20 Datenträgern gesammelt. Als seine Lebensgefährtin solche Bilder auf seinem Smartphone findet, zeigt sie ihn an. Anfang Februar muss sich Teichtmeister vor Gericht verantworten. "Heute" hat berichtet.

Vom eigenen Vater misshandelt und vergewaltigt

In ihrer Kindheit misshandelt wurde auch Jeni Haynes – von ihrem eigenen Vater. Jeni war gerade einmal vier Jahre alt, als sie 1974 mit ihrer Familie von London nach Australien zog, wo die grausame körperliche und seelische Folter sowie der sexuelle Missbrauch durch ihren Vater fast täglich stattfanden. Das Mädchen erzählte lange Zeit niemandem davon, weil ihr Vater ihr sagte, er könne ihre Gedanken lesen und drohte, ihre Mutter, ihren Bruder und ihre Schwester zu töten.

In einem Interview mit "60 Minutes Australia" beschrieb Jeni den Missbrauch als "schwer, sadistisch [und] gewalttätig". Um ihrem jungen Ich zu helfen, mit dem Missbrauch fertig zu werden, entwickelte Jeni neue Identitäten. Im Laufe der Zeit kam sie so auf mehr als 2.500 verschiedene Persönlichkeiten. Auf 2.681, um genau zu sein. Jede ihrer vielen Persönlichkeiten hatte die Aufgabe, Jeni nicht nur vor den Schmerzen, sondern auch vor den Geschmäckern, Geräuschen und Gerüchen des Missbrauchs zu schützen. "Symphony" war die erste von Jenis geschaffenen Persönlichkeiten. Später kamen etwa "Teenager Muscles", der 8-jährige "Ricky" oder der rothaarige "Judas" dazu. 

Die multiple Persönlichkeitsstörung (dissoziative Identitätsstörung) entsteht oft aufgrund schwerer traumatischer Erfahrungen im Kindesalter, bei denen sich die Persönlichkeit aufspaltet. Die verschiedenen Anteile der Persönlichkeit existieren nebeneinander und wechseln einander ab. In der Regel wissen sie nichts voneinander, haben unterschiedliche Charaktere, Vorlieben, Fähigkeiten und Erinnerungen.

Auf ihre Mutter konnte Jeni nicht zählen. Diese stand unter Medikamenteneinfluss und hat aufgrund ihres Zustands viele potenzielle Hinweise auf das Grauen nicht erkannt. Erst Jahre nach der Trennung von Jenis Vater erfuhr sie die schreckliche Wahrheit – da ist Jeni 11 Jahre alt. Sie konnte ihrer Mutter dennoch verzeihen. "Es hat keinen Sinn, sich darüber zu ärgern, dass die arme Mutter von ihrem dummen Ehemann mit Drogen vollgepumpt wurde", so Jeni.

Über 2.500 Persönlichkeiten sagen vor Gericht aus

Die lang ersehnte Gerechtigkeit kam 2019 in einem bahnbrechenden Prozess, bei dem sowohl Jeni als auch ihre 2.681 Persönlichkeiten gegen ihren Vater aussagten. In einer Erklärung vor Gericht sagte Jeni: "Der Missbrauch durch meinen Vater war kalkuliert und geplant. Es war vorsätzlich und er hat jede Minute davon genossen. Er hörte, wie ich ihn anflehte, aufzuhören, er hörte mich weinen, er sah den Schmerz und den Schrecken, den er mir zufügte, er sah das Blut und die körperlichen Schäden, die er verursachte. Trotzdem wiederholte er das Ganze am nächsten Tag wieder." 

Jenis "Armee"

Jeni beschrieb ihre Persönlichkeiten als eine "Armee", und der Fall gegen ihren Vater war vermutlich der erste in Australien, bei dem ein Opfer mit diagnostizierter DIS mit seinen anderen Persönlichkeiten ausgesagt hat und eine Verurteilung erreichte. Am 6. September 2019 wurde Richard Haynes, der damals Mitte 70 war, für seine Verbrechen zu 45 Jahren Gefängnis verurteilt. Seitdem ist Jeni damit beschäftigt, sich ihr Leben zurückzuerobern. Das kleine Mädchen, das einst davon träumte, Friseurin zu werden, ist heute 52 Jahre alt und hat nun einen Doktortitel und einen Master in Kriminologie und Psychologie. 

Aber auch nachdem der Täter verurteilt wurde, verließ die "Armee" Jeni nicht. Das will sie auch gar nicht – schließlich wäre sie ohne sie nicht hier. "Warum sind sie nicht verschwunden? Weil wir nicht wollen, dass ihre Lebenserfahrungen ausschließlich negativ sind", sagt sie. "Ich möchte, dass sie Spaß haben. Ich möchte, dass sie das Leben genießen."