"Verarsche", "Man hebt ab"

Insider enthüllt fette Zubrote unserer EU-Politiker

Nico Semsrott saß fünf Jahre im EU-Parlament, jetzt reicht es ihm. Kurz vor Ende der Legislaturperiode räumt er mit intransparenten Geldflüssen auf.

Roman Palman
Insider enthüllt fette Zubrote unserer EU-Politiker
Der deutsche Satiriker Nico Semsrott am Anfang seiner EU-Karriere im September 2019. Er will keinesfalls nochmal zur Wahl antreten.
Philipp von Ditfurth / dpa / picturedesk.com

Korruption ist im Europäischen Parlament gar nicht nötig, um stinkreich zu werden. Dass das auch auf legalen, wenn auch fragwürdigen Wegen geht, deckt nun Insider Nico Semsrott (38) auf. Der deutsche Satiriker zog im Juli 2019 mit "Die Partei" ins EU-Parlament ein, um etwas zu verändern, wie er selbst sagt. Stattdessen hat der Brüsseler Moloch ihn geschafft.

Entsprechend auch der Titel von Semsrotts nach Ostern erscheinendem Buch: "Brüssel sehen und sterben – Wie ich im Europaparlament meinen Glauben an (fast) alles verloren habe."

Der Politiker, der auf keinen Fall erneut zur Wahl antreten will, rechnet jetzt im öffentlich-rechtlichen, deutschen YouTube-Format "Die da oben!" mit der EU ab. Wortwörtlich.

So vergolden sich EU-Politiker selbst

Sein erster Streich ist ein Einblick in die undurchsichtigen Geldflüsse zu den 705 Abgeordneten des EU-Parlaments, 96 davon stammen aus Deutschland, 19 aus Österreich. Semsrott enthüllt dabei, wie man sich als Abgeordneter mit legalen Mitteln das ohnehin schon nicht zu enge Grundgehalt von 10.075,18 Euro brutto bzw. 7.853,89 Euro netto (Stand: 1.7.2023) monatlich massiv auffetten kann.

15.000 Euro für Anwesenheit

Es erinnert ein bisschen an die Uni: Wie Studenten müssen EU-Parlamentarier auf einer Anwesenheitsliste unterzeichnen und schon gibts pauschal 350 Euro für jeden Tag extra. Damit will die EU ihren Abgeordneten die Kosten für Hotels, Verpflegung und Nebenkosten rund um die Sitzungen abdecken. Diese Entschädigung gibt es unter anderem für die ständige Pendelei nach Straßburg, wo an insgesamt 42 Tagen im Jahr die Plenarsitzungen stattfinden.

Summa summarum gibts bei voller Anwesenheit alleine dadurch 14.700 Euro zusätzlich.

Das ist noch der transparente Teil der Extrageldflüsse. Doch richtig Kohle gibt es auf anderen Wegen, wie Semsrott aufzeigt:

5.000 Euro jeden Monat, ohne Kontrolle

Da ist zum Beispiel eine Bürokostenpauschale von aktuell 4.950 Euro im Monat, die Ausgaben wie Büromiete im Heimatland, IT, Mobilfunkverträge abdecken soll. Diese "allgemeine Kostenvergütung" wird aber einfach auf ein "privates Extrakonto" überwiesen, beklagt der Deutsche. Doch die Ausgaben müssen ihm zufolge überhaupt nicht dokumentiert werden.

"Es gibt zwar Regeln, was man dafür mit kaufen kann. Der Gag ist aber auch, es wird nicht kontrolliert, was du mit diesem Geld machst. Am Ende hast du noch Betrag X auf diesem Konto und kannst machen damit was du willst."  Das EU-Parlament selbst habe weder Zugriff auf, noch Einsicht in dieses Konto.

Wer als Parlamentarier hier nicht viel Geld ausgibt, dem bleibt am Ende der Legislaturperiode einiges übrig. 5 Jahre sind 60 Monate, macht 297.000 Euro!

Es geht aber noch wilder, weil einfach die Transparenz fehlt:

"Maximale Gönnung" bei Reisekosten

Als deutscher EU-Abgeordneter habe er sowohl für Deutschland als auch Belgien eine Netzkarte der Bahn. "Ich kann also de facto kostenlos zwischen Berlin und Brüssel hin und her fahren, trotzdem kann ich jetzt noch Reisekosten erstatten lassen. Es ist unglaublich".

"Dafür muss ich und kann ich natürlich gar keine Belege einreichen", er müsse auf dem Antrag "einfach schwören, dass ich die Fahrt wirklich unternommen habe".

Screenshot von Nico Semsrotts Reisekostenabrechnung im Beitrag von "Die da oben!"
Screenshot von Nico Semsrotts Reisekostenabrechnung im Beitrag von "Die da oben!"
Screenshot YouTube

Das hat er auch ausprobiert, wie er "Die da oben!" mit einer Kopie seines Antrages zeigt. Für die genannte Strecke erhielt er 539 Euro erstattet, obwohl er offen zugab, keinen Cent für ein Ticket ausgegeben zu haben. Der zu erhaltende Betrag setzt sich aus den realen Kosten (durch die Bahncards 0 Euro) und je einer Pauschale für Zeitaufwand und Distanz zusammen. 

Weil es aber keine Kontrolle mit Belegen gibt, könnte Semsrott einfach immer und immer wieder behaupten, diese Strecke gependelt zu sein – und immer wieder abkassieren.

Das Gleiche sei auch mit einer Autofahrt möglich. Im Selbstversuch sei er mit einem Mietwagen nach Berlin und zurück gefahren. Weil man erst ab einer Distanz von 800 Kilometern auch Belege einreichen müsse – Brüssel–Berlin liegt bequemerweise noch knapp innerhalb dieses Radius –, kriege er für hin und zurück einfach so 1.364 Euro erstattet. "Und das alles steuerfrei."

"Was kommt eigentlich dabei raus, wenn sich CDU/CSU mit ihren konservativen Schwesterparteien im EU-Parlament Regeln für die Reisekostenerstattung ausdenken?", fragt Semsrott. Seine Antwort: "Maximale Gönnung für alle deutschen EU-Abgeordneten!"

Völlig absurd erscheint Otto-Normalverdiener aber dann noch dieses Detail: für eine solche Kostenerstattung muss es nicht einmal eine Dienstreise sein. Auch das hat der Aufdecker schon ausprobiert, in dem er explizit angab, dass es eine Privatfahrt gewesen sei: "Ich habe trotzdem Geld bekommen." Die Fahrt mit dem Schnellzug nach Paris und zurück habe ihn 105 Euro gekostet, vom EU-Parlament erhielt er dafür aber gleich über 600 Euro, weil Zeitaufwandsvergütung und Entfernungszulage.

Wie viel sich Abgeordnete hier dazuverdienen, kann von außen überhaupt nicht beziffert werden. Weil es aber keine Kontrollen gibt, stehen Tür und Tor für Missbrauch dieses Systems offen. 

Semsrott spricht selbst davon, dass er erfahren habe, dass diese Reisekostenerstattung systematisch für Urlaubsreisen ausgenutzt werde. Er vermutet dahinter ein gewisses Kalkül der Obrigkeit: "Es gibt hier für alles Regeln. Die sind letztlich aber nur dazu da, die Öffentlichkeit zu verwirren, weil es de facto in den allermeisten Bereichen keine Kontrollen gibt."

Nico Semsrott im EU-Parlament in Straßburg 2019.
Nico Semsrott im EU-Parlament in Straßburg 2019.
Jean-Francois Badias / AP / picturedesk.com

Unzählige Schlupflöcher

Dazu nennt er noch weitere Beispiele, wie etwa die Geschenkannahme. Diese müssen ab einem Wert von 150 Euro gemeldet werden, doch gibt es keine offizielle Stelle, die den Wert schätzen würde. Das machen die Beschenkten selbst. Diese Statuten betreffen aber nur Sachgeschenke: "Das Absurde ist: Man kann auf eine Lobbyveranstaltung gehen, dort kostenlos trinken und essen. Das kann theoretisch viel mehr wert sein, aber das muss man nicht angeben. Das gehört dann einfach zum Job."

Nebeneinkünfte

Auch dürfen EU-Parlamentarier noch Nebenjobs ausüben, die Höhe der Einkünfte daraus müssen erst seit dem Korruptionsskandal 2022 um Eva Kaili "auf detaillierte und präzise Weise" angegeben werden. "Der Witz daran, es wird ebenfalls nicht kontrolliert. Ich muss keine Belege einreichen, das Parlament hat keine Steuererklärung von mir, auch keine Kontoauszüge und damit ist auch das, ehrlich gesagt, einfach eine Verarsche".

Die österreichischen Abgeordneten sind jedenfalls (offiziell) zurückhaltend mit Zuverdiensten. ÖVP-EU-Urgestein Othmar Karas (seit 1999 im EU-Parlament) gab in seiner letzten Erklärung Ende 2023 an, überhaupt nichts nebenbei kassiert zu haben. Seine anderen Tätigkeiten als Hilfswerk-Präsident und diversen Vereinen und Gesellschaften hätten ihm "keine" Einkommen oder sonstige Vorteile gebracht. 

Ein freiheitliches Zubrot gibts derweil für Harald Vilimsky (FPÖ, seit 2014 im EU-Parlament). Laut seiner offiziellen Erklärung erhält er monatlich 1.000 Euro von seiner Partei extra. Wofür? "Medienberatung". Aus dem ganzen restlichen Reigen an blauen Funktionen, die er weiter innehat, beziehe er hingegen "keine" Einkommen.

Nico Semsrott 2019 während einer Plenarsitzung 2019.
Nico Semsrott 2019 während einer Plenarsitzung 2019.
Philipp von Ditfurth / dpa / picturedesk.com

Obergrenze gefordert

Satiriker Semsrott hofft auf frischen Wind im Parlament. Er würde sich ein Initiativrecht für das Parlament wünschen, denn aktuell kann nur die EU-Kommission Gesetze zur Abstimmung einbringen.

Dazu solle auch die EU-Bevölkerung über Petitionen mehr Einfluss auf die Politik bekommen und die Gesetzgebung verändern können. "Es muss diese Perspektive geben, dass die Bevölkerung selbst ein Korrektiv sein kann zwischen den Wahlen. Nicht als Ersatz, sondern Ergänzung." 

Auch bei der intransparenten Geld-Thematik müsse aufgeräumt werden, konstatiert der Deutsche. Er fordert ein Nebentätigkeitsverbot und darüber hinaus auch die Pflicht, Steuererklärungen zu veröffentlichen. "Ich möchte, wenn ich als Wähler Abgeordneten Macht gebe, denen vertrauen können, dass die das nicht zum Eigennutz machen."

"Man hebt hier ab"

Zu guter Letzt stellt er sich noch eine Obergrenze vor, wie lange man als Mandatar tätig sein kann. "Ich finde, man darf einmal wiedergewählt werden und nach zehn Jahren muss man hier raus. Das ist auch für die eigene psychische Gesundheit und für das eigene Sozialleben wichtig."

Denn, so weiß er aus eigener Erfahrung, wenn man auf Dauer in der EU-Schaltzentrale werkelt, hebt man irgendwann ab. "Es gibt einen Gewöhnungsprozess: Wenn da Geldbeträge auf dem Konto reingekommen sind, dann habe ich immer erstmal gedacht, das fühlt sich irgendwie falsch und kriminell an. Mittlerweile finde ich das okay. Wenn ich noch eine Legislaturperiode hier drin bleiben würde, würde ich sagen: 'Ne, das ist auch mein gutes Recht'". 

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