Odyssee zur Diagnose
Dyskalkulie: "Brauchte 3 Stunden für eine Matheaufgabe"
In der dritten Klasse beginnen für Florian die Probleme im Mathematikunterricht. Fast 10 Jahre dauert es, bis er die Diagnose Dyskalkulie bekommt.
"Die ersten Jahre in der Schule hatte ich super Noten und war ein guter Schüler", erzählt Florian Klisanin. In der dritten Klasse hätten die Schwierigkeiten begonnen. "Und ab der Oberstufe habe ich mich dann völlig abgehängt gefühlt", erinnert sich der 20-Jährige zurück.
Statistisch gesehen gibt es ein bis zwei Kinder pro Schulklasse, denen es ähnlich geht wie Florian. Dyskalkulie, also eine Rechenstörung, ist in der Gesellschaft heute nach wie vor eher unbekannt. Das sagt die Neurowissenschaftlerin Karin Kucian, die am Universitäts-Kinderspital Zürich zum Thema forscht (siehe Interview unten). Sie kennt viele Geschichten wie Florians.
10 Jahre bis zur Diagnose
Beim 20-Jährigen dauerte es noch mehrere Jahre, bis er eine Diagnose erhielt – trotz klarer Anzeichen. "Ich weißnoch genau, wie meine Mutter mir drei Stunden lang versucht hat, eine Aufgabe zur schriftlichen Multiplikation zu erklären", so Florian. "Da habe ich mich das erste Mal gefragt, was mit mir los ist." Die Situation sei für ihn extrem belastend gewesen. "Ich zweifelte an mir und dachte, ich sei dumm."
Das sei leider oft typisch für Menschen, bei denen Dyskalkulie noch nicht diagnostiziert wurde, weiss Karin Kucian. "Neuste Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen mit Dyskalkulie psychisch stärker belastet sind, als Menschen mit anderen Lernstörungen wie ADHS oder Legasthenie", so die Neurowissenschaftlerin. Ob dies daran liege, dass das Bewusstsein über Dyskalkulie weniger verbreitet sei, als bei anderen Lernstörungen, lasse sich nicht beantworten.
Im zehnten Schuljahr folgte die Diagnose
Bei Florian war es eine Lehrperson im zehnten Schuljahr, die das erste Mal das Thema ansprach. Nach einer Abklärung erhielt er die Diagnose Dyskalkulie. Für seine Mutter sei es eine Erleichterung gewesen, zu wissen, was los sei. "Für mich war die Diagnose jedoch zuerst ein Schock. Ich habe nicht genau gewusst, wie ich damit umgehen soll", so Florian.
Trotz seiner Lernstörung fand Florian eine Lehrstelle als Dentalassistent. "Aber niemand wusste von meiner Dyskalkulie. Und auch in der Berufsschule erzählte ich nicht, weshalb ich einen Nachteilsausgleich hatte." Einen Nachteilsausgleich erhalten Schüler mit einer anerkannten Lernstörung. Florian erhielt zum Beispiel mehr Zeit bei Prüfungen und die Möglichkeit, Tests in einem separaten Raum zu schreiben.
Es habe rund ein Jahr gedauert, bis er sich mit der Dyskalkulie arrangieren haben könne. "Ab da habe ich es auch bei der Arbeit transparent erzählt — und erhielt viel Verständnis." Heute spricht Florian bewusst öffentlich unter @dysgalaxie auf Instagram und auf der gleichnamigen Website darüber. "Ich möchte, dass mehr Menschen verstehen, was Dyskalkulie ist. Und dass niemand, der die Diagnose erhält, schockiert sein muss." Florian hat inzwischen seine Lehre erfolgreich abgeschlossen. Derzeit arbeitet er temporär in diversen Sektoren. "Für den Alltag habe ich Strategien, um mit meiner Lernstörung umzugehen. Das hilft enorm."
Experteninterview: "Je früher die Dyskalkulie erkannt wird, desto besser"
Karin Kucian ist Neurowissenschaftlerin und Forschungsgruppenleiterin am Zentrum für MR-Forschung des Universtitäts-Kinderspitals Zürich zum Thema Dyskalkulie.
Frau Kucian, was ist Dyskalkulie?
Dyskalkulie beschreibt eine Rechenstörung. Diese zeigt sich sehr individuell, denn Mathematik ist sehr breit. Es gibt Personen, die Mühe mit Mengen haben, andere mit Arithmetik, also dem Rechnen. Oder das räumliche Denken kann betroffen sein. Es gibt natürlich auch Menschen, die in mehreren Bereichen Mühe haben. Das macht die Diagnose anspruchsvoll.
Wie kann eine Dyskalkulie die Schulkarriere beeinflussen?
Eine nicht erkannte Dyskalkulie kann einen extrem negativen Einfluss auf die Schulleistung haben. Sie beeinflusst ja nicht nur das Fach Mathematik, sondern auch Physik, Chemie oder Geschichte: Welche Ereignisse passierten in welcher Reihenfolge? Und auch im privaten Alltag stecken unzählige Herausforderungen.
Zum Beispiel?
Fehlt das Bewusstsein für die Rechenstörung Dyskalkulie?
Ja, man geht davon aus, dass drei bis sieben Prozent der Bevölkerung von Dyskalkulie betroffen sind. Dyskalkulie kommt gleich häufig vor, wie zum Beispiel ADHS oder Legasthenie. Aber die Rechenstörung ist viel weniger bekannt. Mit unserer Plattform für Lernen und Lernstörungen möchten wir beitragen, das zu ändern.
Ist Dyskalkulie heilbar?
Nein, doch mit einer spezialisierten Therapie lernt man, mit der Lernschwäche umzugehen und erhält Unterstützung bei schulischen Problemen und im Alltag. Je früher die Dyskalkulie erkannt wird und mit einer Förderung begonnen werden kann, desto besser sind die Erfolgschancen.
Auf den Punkt gebracht
- Florian Klisanin hatte in der dritten Klasse erstmals Schwierigkeiten im Mathematikunterricht, doch es dauerte fast zehn Jahre, bis er die Diagnose Dyskalkulie erhielt.
- Trotz der Herausforderungen fand er eine Lehrstelle und spricht heute offen über seine Lernstörung, um das Bewusstsein für Dyskalkulie zu erhöhen und anderen Betroffenen zu helfen.