Gesundheit

Dank Gedankenleseimplantat: Gelähmter kann wieder gehen

Ein neues elektronisches Implantat in Hirn und Wirbelsäule ermöglicht dem Patienten, die Kontrolle über seine Beine wiederzuerlangen. 

Sabine Primes
Der querschnittsgelähmte niederländische Patient Gert-Jan (Mitte) geht dank des Brain Computer Interface (BCI), das gedankengesteuertes Gehen nach einer Rückenmarksverletzung ermöglicht.
Der querschnittsgelähmte niederländische Patient Gert-Jan (Mitte) geht dank des Brain Computer Interface (BCI), das gedankengesteuertes Gehen nach einer Rückenmarksverletzung ermöglicht.
JEAN-CHRISTOPHE BOTT / Keystone / picturedesk.com

Ein internationales Team von Wissenschaftlern kündigte am Mittwoch "eine neue Ära" in der Behandlung neurologischer Erkrankungen an. Die Forscher haben eine "digitale Brücke" zwischen dem Gehirn und dem Rückenmark von Gert-Jan Oskam installiert, einem 40-jährigen Niederländer, der nach einem Fahrradunfall im Jahr 2011 auf dem Heimweg von der Arbeit querschnittsgelähmt wurde. Zwei Implantate in seinem Gehirn können nun seine Gedanken lesen und sie – drahtlos – an ein drittes Implantat senden, das sein Rückenmark elektrisch stimuliert. Der Patient ist nun in der Lage, lange Strecken auf Krücken zu gehen und mit ihrer Hilfe sogar Treppen zu steigen.

"Digitale Brücke" zwischen Gehirn und Rückenmark

Die elektronischen Implantate übertragen seine Gedanken über ein zweites Implantat an der Wirbelsäule drahtlos an seine Beine und Füße. "Ich fühle mich wie ein Kleinkind, das wieder laufen lernt", sagte Oskam gegenüber der BBC. Er kann jetzt auch stehen und Treppen steigen. "Es war ein langer Weg, aber jetzt kann ich aufstehen und ein Bier mit meinem Freund trinken. Das ist eine Freude, die viele Menschen nicht kennen."

Noch in den Kinderschuhen

Die Entwicklung, die in der Zeitschrift "Nature" veröffentlicht wurde, wurde von Schweizer Forschern geleitet. Die Neurochirurgin, Prof. Jocelyne Bloch von der Universität Lausanne, führte die heikle Operation zum Einsetzen der Implantate durch. Sie betonte, dass sich das System noch im Stadium der Grundlagenforschung befinde und noch viele Jahre davon entfernt sei, für gelähmte Patienten verfügbar zu sein. Das Ziel des Teams sei aber, das System so schnell wie möglich aus dem Labor in die Klinik zu bringen. "Das Wichtigste für uns ist nicht nur, dass wir eine wissenschaftliche Studie durchführen, sondern auch, dass wir mehr Menschen mit Rückenmarksverletzungen den Zugang ermöglichen."

Die Operation zur Wiederherstellung der Bewegungsfähigkeit von Gert-Jan wurde im Juli 2021 durchgeführt. Bloch schnitt auf jeder Seite von Oskams Schädel zwei kreisförmige Löcher mit einem Durchmesser von 5 Zentimeter über den Hirnregionen, die an der Bewegungssteuerung beteiligt sind. Anschließend setzte sie zwei scheibenförmige Implantate ein, die drahtlos Gehirnsignale – Gert-Jans Gedanken – an zwei Sensoren übertragen, die an einem Helm auf seinem Kopf befestigt sind. Das Schweizer Team entwickelte einen Algorithmus, der diese Signale in Anweisungen für die Bewegung der Bein- und Fußmuskeln umsetzt, und zwar über ein zweites Implantat, das um Gert-Jans Rückenmark herum eingesetzt wurde und das Bloch mit den Nervenenden für das Gehen verbunden hat.

Nach einigen Wochen Training konnte der Niederländer stehen und mit Hilfe einer Gehhilfe gehen. Laut Prof. Grégoire Courtine von der École Polytechnique Fédérale in Lausanne (EPFL), der das Projekt leitete, sind seine Bewegungen langsam, aber gleichmäßig. "Ihn so natürlich laufen zu sehen, ist so bewegend. Es ist ein Paradigmenwechsel im Vergleich zu dem, was bisher möglich war."

Zwei Hirnimplantate mit 64 Elektroden werden epidural über dem sensomotorischen Kortex angebracht, um Elektrokortikografie<a href="https://www.pschyrembel.de/Elektrokortikografie/K06NH"></a>-Signale zu erfassen. Eine Verarbeitungseinheit sagt motorische Absichten voraus und setzt diese elektrische Stimulation um, die auf das Rückenmark abzielen. Die Stimulation erfolgt über einen implantierbaren Impulsgenerator, der mit einer 16-Elektroden-Paddle-Leitung verbunden ist.
Zwei Hirnimplantate mit 64 Elektroden werden epidural über dem sensomotorischen Kortex angebracht, um Elektrokortikografie-Signale zu erfassen. Eine Verarbeitungseinheit sagt motorische Absichten voraus und setzt diese elektrische Stimulation um, die auf das Rückenmark abzielen. Die Stimulation erfolgt über einen implantierbaren Impulsgenerator, der mit einer 16-Elektroden-Paddle-Leitung verbunden ist.
nature.com

Auf bisherigen Forschungsergebnissen aufbauen

Die Hirnimplantate bauen auf den früheren Arbeiten von Courtine auf, bei denen nur das Wirbelsäulenimplantat zur Wiederherstellung der Bewegung eingesetzt wurde. Das Wirbelsäulenimplantat verstärkte schwache Signale vom Gehirn an den geschädigten Teil der Wirbelsäule und wurde durch vorprogrammierte Signale von einem Computer weiter verstärkt.

Gert-Jan hatte nur das Wirbelsäulenimplantat, bevor er die Gehirnimplantate erhielt. Jetzt hat er viel mehr Kontrolle, wie er sagt: "Vorher hatte ich das Gefühl, dass das System mich kontrolliert, aber jetzt kontrolliere ich es". Weder die alten noch die neuen Systeme können ständig eingesetzt werden. Sie sind sperrig und befinden sich noch in einem experimentellen Stadium. Stattdessen benutzen die Patienten sie ein paar Mal pro Woche für etwa eine Stunde als Teil ihrer Genesung. Durch das Gehen werden ihre Muskeln trainiert, und sie können sich wieder einigermaßen bewegen, wenn das System ausgeschaltet ist, was darauf hindeutet, dass geschädigte Nerven wieder nachwachsen.

Technologie kommerzialisieren

Das von Prof. Courtine gegründete Unternehmen Onward Medical arbeitet an Verbesserungen, um die Technologie zu kommerzialisieren, damit sie im täglichen Leben der Menschen eingesetzt werden kann. "Es wird kommen", sagt Courtine. "Das Potenzial für die Genesung ist enorm".

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