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Vergifteter Nawalny ist aus dem Koma erwacht
Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ist nach Angaben der Berliner Klinik Charité aus dem Koma erwacht und ansprechbar.
Nawalny sei aus dem Koma geholt worden, teilte das Krankenhaus am Montag mit. Der Zustand Nawalnys, der am 20. August bei einem Inlandsflug in Russland Analysen zufolge mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet wurde, habe sich soweit gebessert, dass das medizinisch eingeleitete Koma beendet werden konnte, hieß es. Allmählich werde auch die künstliche Beatmung zurückgefahren. Nawalny sei ansprechbar, Langzeitfolgen der schweren Vergiftung könnten aber noch nicht abgeschätzt werden.
Am 19. August waren Nawalny und zwei Mitarbeiter in Tomsk aufgetreten. Die Anreise in die westsibirische Stadt sei geheim gewesen, schreibt "Der Spiegel". Vor zwei Dutzend Oppositionellen sprach der Kreml-Kritiker über die bevorstehenden Regionalwahlen im September und darüber, wie man der Kremlpartei Einiges Russland mit der Strategie des "schlauen Wählens", dem systematischen Umlenken von Proteststimmen, schaden könne.
Gift im Tee vermutet
Vor der Rückreise nach Moskau am 20. August trank Russlands bekanntester Oppositionelle im Wartesaal des Flughafens Tee für 100 Rubel und bestieg dann die Maschine. Bald nach dem Start brach er zusammen. Der Flieger kehrte nach Tomsk zurück, Notlandung. Im Spital gingen die Ärzte zunächst von einer Vergiftung aus – sie spritzten Nawalny das Gegengift Antropin und versetzten ihn in ein künstliches Koma. Später ändert die Version der Ärzte. Der Patient habe ein Stoffwechselproblem, Giftstoffe seien keine festgestellt worden.
Nawalnys Familie bestand darauf, ihn nach Deutschland auszufliegen, die russischen Ärzte weigerten sich mit der Begründung, Nawalny sei nicht transportfähig. Schließlich setzte sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Hilfe des finnischen Präsidenten Sauli Niinistö erfolgreich für eine Verlegung nach Deutschland ein. Die deutsche Kanzlerin, so schreibt der "Spiegel", lasse sich seither täglich über den Zustand des Russen informieren. Die Ärzte der Charité bestätigten schließlich, was viele vermutet hatten: Nawalny war mit einem chemischen Kampfstoff der "Nowitschok"-Gruppe vergiftet worden. Weswegen und von wem?
Es gibt im Westen einige Theorien.
• Gefährliches Video: In einem 40 Minuten langen Video hatte Nawalny über die Regionalwahlen referiert und dabei einzelne einflussreiche Politiker, ihre Arbeit und ihr Vermögen beleuchtet. Mit dem Video machte er sich keine neuen Freunde.
• Die Regionalwahlen und das "schlaue Wählen": Letzten Herbst folgten viele Menschen Nawalnys Aufruf, die stärkste Konkurrenz der jeweiligen Regierungspartei zu wählen. Diese Strategie soll auch bei den diesjährigen Regionalwahlen im September dazu führen, Putin und seine Partei Einiges Russland zu schwächen. Nawalnys Mitarbeiter vermuten, dies sei ein Grund für den Angriff.
• Der Massenprotest in Belarus: Am Wahltag in Belarus hatten Nawalnys Leute eine sechsstündige Dauersendung ausgestrahlt und triumphiert: Was dort passiere, könnte ein Vorgeschmack davon sein, was im kommenden Jahr anlässlich der russischen Wahlen geschehen könnte. "Das, was der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko machte – nämlich die Opposition erst kurz vor den Wahlen auszuschließen –, möchte Putin verhindern. Er will nicht von Ereignissen überrannt werden oder eine oppositionelle Dynamik aufkommen lassen", sagte Belarus-Experte Sven Gerst unlängst im Interview mit 20 Minuten.
• Der Auftraggeber: Viele Beobachter bezweifeln, dass ein Vergiftungsbefehl direkt vom russischen Präsidenten Wladimir Putin gekommen sei. Dieser dürfe, wie bereits in der Vergangenheit, eine solche Aktion aber billigend in Kauf nehmen. Die Politologin Tatiana Stanovaya sieht denn auch die Vergiftung Nawalnys als Beleg dafür, "dass der Auftraggeber des Anschlags der Macht nicht nur nahesteht, sondern auch auf Instrumente zurückgreifen kann, die in die Domäne der Sicherheitsdienste fallen."
Sanktionen stehen im Raum
Mittlerweile hat der Kreml Anschuldigungen zu einer möglichen Verwicklung in den Fall des vergifteten Kremlkritikers Alexei Nawalny zurückgewiesen. "Es gibt keinen Grund, dem russischen Staat etwas vorzuwerfen", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Deshalb sehe er auch keinen Anlass für irgendwelche Sanktionen, die gegen Russland oder gegen die Ostsee-Pipline Nord Stream 2 verhängt werden könnten. Tatsächlich steht seit der Vergiftung Nawalnys die Forderung im Raum, das milliardenschwere Pipeline-Projekt auf den Prüfstand zu stellen, das mehr russisches Gas nach Westeuropa bringen soll. Auch die Möglichkeit neuer Sanktionen gegen Russland werden in Brüssel wieder debattiert.