Reporterin in Damaskus
Säurefass, Leichenpresse: Besuch in Assads Horrorkerker
Das Assad-Regime ist seit einer Woche Vergangenheit. Doch der Horror hat sich in die dicken Mauern des berüchtigten Sednaja-Gefängnisses eingefressen.
Der syrische Machthaber Baschar al-Assad ist Geschichte. Seither stehen die Tore des berüchtigten Sednaja-Gefängnisses offen. Damit sind Tausende, oft willkürlich Inhaftierte, freigekommen. Doch Hunderte Syrer aus dem ganzen Land suchen weiter nach ihren Angehörigen.
Die Schweizer Reporterin Ann Guenter hat sich nun für das Nachrichtenportal "20 Minuten" in das Gefängnis gewagt, in dem seit den späten 1980ern Unsägliches passiert ist. Das ist ihre Reportage:
Hort des Horrors
Sie blickt sie schon von weitem unverwandt an. Wortlos steuert sie direkt auf die Reporterin zu. Die beiden kennen sich nicht, sprechen nicht einmal die gleiche Sprache. Dennoch umarmt die Frau die Journalistin wie eine Schwester, die sie lange nicht gesehen hat, und weint. Umstehende werden auf das ungleiche Paar aufmerksam: Die Journalistin aus dem Westen und die Frau ganz in Schwarz gekleidet im Vorhof dieses Horts des Horrors und der Unmenschlichkeit.
Ihr Sohn und ihr Ehemann wurden hier gehängt, erzählen die Umstehenden, und jetzt, wo das Assad-Regime gestürzt ist, komme sie seit Tagen zum Sednaja-Gefängnis, um irgendwie bei ihnen zu sein. Doch den Trost, den sie sucht, kann ihr wohl niemand geben.
Video: Das Grauen in Assads Gefängnissen
Massenhinrichtungen als "Party"
Das Sednaja-Gefängnis ist ein riesiger Komplex aus beigem Stein. Gut 40 Minuten nördlich von Damaskus gelegen, sieht er von weitem eigentlich harmlos aus. Doch hier fanden Dinge statt, die einen zweifeln lassen, ob es das Gute überhaupt gibt. Denn auch wenn man nicht an Geister glaubt – aus Hunderten vergitterten Fensterlöchern scheinen die geschundenen Seelen von Zehntausenden zu schreien.
Allein seit Ausbruch des Bürgerkrieges 2011/2012 sollen über 20.000 Personen inhaftiert gewesen sein. Bis vor wenigen Tagen holten die Wärter von Sednaja mindestens jede Woche wahllos zusammengestellte Gruppen von bis zu 50 Personen aus ihren Zellen. Sie teilten ihnen mit, dass sie in ein anderes Gefängnis kämen. Man brachte sie in schmale Käfige mit dicken Eisenstangen, die sich in den zahlreichen riesigen Hallen den Wänden entlang reihen. Hier warteten die Häftlinge auf ihre "Verlegung". Aber in der Nacht wurden sie gehängt. Die Wärter nannten diese Massenhinrichtungen offenbar "die Party".
Bilder: Karim El-Gawhary in Folterkammern des Assad-Regimes
30.000 Tote
Insgesamt über 30.000 Menschen sollen in Sednaja getötet worden sein. Andere wurden gefoltert, geschlagen und in Scheinprozessen erniedrigt. In den unzähligen Zellen, kleiner als zehn Quadratmeter, vegetierten drei, vier Häftlinge über Jahre dahin – es gab kaum Essen, Wasser oder eine sanitäre Grundversorgung. Womöglich war der Tod so für viele erlösend.
Heute durchstreifen Männer in arabischen Turbanen und bunten Häkelmützen die dunklen, feuchten Gänge, und Frauen in Kopftüchern pressen sich Taschentücher vor den Mund gegen den ekelhaften Geruch, der die Gewölbe durchdringt. Bärtige Kämpfer mit uralten Maschinengewehren markieren Präsenz.
Video: Blick in das Sednaja-Gefängnis
Hoffnungen und Gerüchte
Überall hängen Ausdrucke mit Fotos der Vermissten und Telefonnummern. Matratzen und Sofas aus den Büros der Wächter wurden nach draußen geschafft für jene, die von weit her kommend die Nacht hier verbringen.
"Es gibt geheime Zellen unter der Erde, wir müssen danach graben, schafft Bagger heran, helft uns!" – unzählige Male ist diese Bitte zu hören. Frisch geschlagene Löcher klaffen überall in den Gängen und Wänden, weil darunter und dahinter weitere Räume mit Gefangenen vermutet wurden. Die Gerüchte halten sich auch nach einer Woche noch standhaft.
Säurefass und Leichenpresse
Vor einem Raum hat sich eine Menschenschlange gebildet. Sie alle wollen die Druckpresse sehen, mit der offenbar Leichen zerquetscht wurden, um sie einfacher verbrennen zu können. Doch die Presse ist sauber, einige Spinnweben hängen an ihr. Sie scheint schon länger nicht mehr in Betrieb gewesen zu sein.
Gleichzeitig wabert einem von einem Nebenraum ein grauenhafter Gestank entgegen: Fäulnis, Fäkalien, süßer Blutgeruch. Ein Sanitäter des "Roten Halbmondes" öffnet eine weitere Türe, dahinter steht ein gut zwei Meter hohes, blaues Fass. "Es ist mit Säure gefüllt, darin wurden Leichen aufgelöst", sagt er. "Wir waten hier nicht in Wasser, sondern in zersetzten Körpern." Unabhängig lässt sich das nicht bestätigen, glaubhaft ist es allemal.
Letztes Wochenende konnten die Häftlinge den Zellen in Sednaja entfliehen: Etwa 2000 seien letzten Sonntag entlassen worden, so die Freiwilligenorganisation der Weißhelme. Unterirdische Geheimzellen mit Gefangenen seien keine gefunden worden. Es ist unklar, was mit den übrigen 11.000 Insassen geschehen ist.
Auf den Punkt gebracht
- Der syrische Machthaber Baschar al-Assad ist Geschichte. Seither stehen die Tore des berüchtigten Sednaja-Gefängnisses offen. Damit sind Tausende, oft willkürlich Inhaftierte, freigekommen.
- Doch Hunderte Syrer und Syrerinnen aus dem ganzen Land suchen weiter nach ihren Angehörigen.
- Das Schweizer Nachrichtenportal "20 Minuten" hat das Gefängnis besucht, in dem seit den späten 80ern Unsägliches passiert ist.
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