ORF-Reporter in Damaskus
Karim El-Gawhary: "Dann wird es bitter für Syrien"
Nach dem Sturz des Assad-Regimes kehren viele Syrer heim, die meisten warten aber noch ab. Denn: die Zukunft ihres Landes ist mehr als unsicher.
Baschar al-Assad ist in Syrien endlich Geschichte, der Tyrann hat seinen Luxus-Palast in Damaskus gegen Luxus-Asyl bei Moskau eingetauscht. Die Freude über seinen Sturz ist riesig, im Land und auch unter den Geflüchteten in Europa.
"Sie sind das alte, verhasste Regime losgeworden. Eine Herrschaft in der über 100.000 Menschen in den Kerkern des Regimes verschwunden sind. Das ist für viele immer noch total unglaublich, dass es wirklich passiert ist", berichtet ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary Mittwochfrüh direkt aus der syrischen Hauptstadt.
"Aber natürlich gibt es gleichzeitig eine große Sorge darüber, wie es weitergeht." Viele Menschen hier würde nach mehr als einem halben Jahrhundert der Herrschaft der Assads nichts anderes kennen.
Der Anführer der nun tonangebenden Miliz HTS, Mohammed al-Dscholani, versichere zwar, dass das Land keinen weiteren Krieg sehen werde, doch ob er das einhalten könne, stehe Anbetracht der politischen Instabilität Syriens und der gesamten Region in den Sternen. "Das ist eine mutige Ansage: Wir erleben schon jetzt, wie andere versuchen, auf Kosten Syriens, das entstandene Vakuum auszunutzen", so El-Gawhary weiter.
"Israelische Soldaten in der Pufferzone der Pufferzone"
So würde die Türkei gegen kurdische Menschen im Norden des Landes vorgehen und Israel, ohne Gegenwehr befürchten zu müssen, die verbliebene Militär-Infrastruktur mit Luftschlägen zerbomben. Und: Netanyahu hat einen weiteren Teil der Golanhöhen besetzen lassen. "Ob dauerhaft oder nicht, werden wir sehen".
Der Reporter erinnert an den Sechstagekrieg 1967, als Israel die seither bestehende völkerrechtswidrige Besetzung der syrischen Region mit dem Argument einer "Pufferzone" gerechtfertigt hatte. "Jetzt sind israelische Soldaten in der Pufferzone der Pufferzone stationiert." Ein internationaler Aufschrei über dieses Vorgehen blieb bisher aus.
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"Will Zusammenbruch des Staates verhindern"
Die große Frage bleibt: Kann sich Syrien unter dem Islamisten al-Dscholani überhaupt in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entwickeln? "Das ist im Moment wirklich schwer zu beantworten. Was deutlich ist, ist, dass die Rebellen einen friedlichen und geordneten Machtwechsel wollen. Einen, der die staatlichen Institutionen erst einmal intakt hält."
Dafür spreche auch die Ernennung von Mohammed al-Baschir zum Interim-Premierminister bis März 2025. Der sei ein "klassischer Technokrat" und habe Erfahrung in der Provinzverwaltung von Idlib gesammelt. "Man will hier Chaos, oder libysches Szenario, oder einen vollkommenen Zusammenbruch des Staates wie einst im Irak verhindern." Die politische Agenda der Rebellen mit islamistischen Hintergrund bleibe aber bislang unklar.
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Priester: "Lasst sie uns an ihren Taten messen"
Mohammed al-Dscholani erkläre immer wieder, dass er einen "inklusiven Staat für alle Syrer, in dem auch die Minderheiten geschützt werden" schaffen wolle. Ein armenischer Priester in der hauptsächlich von Christen bewohnten Altstadt Damaskus habe ihm berichtet, dass die Rebellen ihm versichert hätten, dass er nichts zu befürchten habe, so der ORF-Korrespondent weiter: "Aber natürlich ist auch er nervös. 'Lasst uns abwarten und lasst sie uns an ihren Taten messen', hat er gesagt."
"... dann wird es bitter für Syrien"
Ob Syrien nach Assad auch wirklich zu Frieden und Stabilität findet, hängt nach Einschätzung El-Gawharys von den Regionalmächten ab: "Wenn die Türkei, der Iran und die Golfstaaten an einem Strang ziehen, um Syrien zu stabilisieren, dann wird dieses neue Projekt Syrien eben nicht entgleisen. Aber wenn sie das Gegenteil tun und alle ihr eigenes Süppchen kochen, um jeweils bei ihren eigenen Gruppierungen Einfluss zu nehmen und diese Gruppierungen sich dann als Stellvertreter der regionalen Mächte gegenseitig bekämpfen, dann wird es bitter für Syrien."
"Das war eine sehr emotionale Fahrt"
Auch für eine Massenrückkehr der Geflüchteten dürfte es noch zu früh sein. "Es gibt einige, die zurückkehren", bestätigt der ORF-Korrespondent und schildert seine Erlebnisse an der libanesisch-syrischen Grenze: Mit mir im Auto saß ein Syrer, der das erste Mal seit 13 Jahren wieder zurückgekehrt ist. Das war eine sehr emotionale Fahrt für ihn nach Damaskus hinein."
Doch: "Viele wollen einfach erst einmal ihre Verwandten sehen oder schauen was mit ihren Häusern passiert ist. Die meisten warten aber erst einmal ab, wie das in ihrem Land wirklich jetzt weitergehen wird."
Auf den Punkt gebracht
- Nach dem Sturz des Assad-Regimes kehren einige Syrer in ihre Heimat zurück, doch die Mehrheit wartet aufgrund der unsicheren Zukunft des Landes ab.
- ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary berichtet von der Sorge über die politische Instabilität und die Einmischung regionaler Mächte, die das Land weiter destabilisieren könnten.
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