Ukraine

Raketen-Einschlag deckt "Nato-Schwachstellen" auf

Die Nato konnte aufatmen, denn es war wohl keine russische Rakete, die in Polen niederging. Doch wie oft ist die Nato bereit, ein Auge zuzudrücken?

Die Rakete, die im Nato-Mitgliedsstaat Polen einschlug, führte zu brenzligen Tagen für die Nato und den Westen. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass es sich um ein ukrainisches Abwehrgeschoss handelte.
Die Rakete, die im Nato-Mitgliedsstaat Polen einschlug, führte zu brenzligen Tagen für die Nato und den Westen. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass es sich um ein ukrainisches Abwehrgeschoss handelte.
via REUTERS

Die jüngsten Tage waren besonders turbulent für Europa und die Nato. Eine Rakete schlägt auf dem Territorium Polens ein und tötet dabei zwei Personen. Besonders brisant war dies, da ein allfälliger Angriff auf Polen als Nato-Mitgliedsstaat als Attacke auf die Nato als Ganzes gewertet werden müsste. Krisensitzungen werden einberufen, wobei immer wieder das Verfahren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags erwähnt wird.

Aufatmen der Nato

Artikel 4 sieht Beratungen der Nato-Staaten vor, wenn einer von ihnen die Unversehrtheit seines Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die eigene Sicherheit bedroht sieht. Doch letztlich ist dieses nicht nötig, denn relativ schnell wird klar, dass der Absender des Geschosses auf das Grenzgebiet wohl nicht Russland war – sondern die Ukraine selbst. Alle Seiten – aber besonders die Nato – können aufatmen.

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    Bei einem Raketen-Einschlag auf einem landwirtschaftlichen Betrieb in einem polnischen Grenzdorf sind am 15.11.2022 zwei Menschen getötet worden.
    Bei einem Raketen-Einschlag auf einem landwirtschaftlichen Betrieb in einem polnischen Grenzdorf sind am 15.11.2022 zwei Menschen getötet worden.
    REUTERS

    Zwar wird Russland trotzdem als eigentlicher Verursacher der Kollateralschäden bezeichnet. "Wir teilen die Ansicht, dass Russland die volle Verantwortung trägt für den Raketen-Terror und dessen Folgen auf dem Gebiet der Ukraine, Polens und Moldaus", schrieb der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba am Donnerstag auf Twitter. Sehr ähnliche Worte fand Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach der Dringlichkeitssitzung des Nordatlantikrats am Mittwoch.

    "Nato braucht Mut und Entschlossenheit"

    Die lettische Tageszeitung "Neatkariga Rita Avize" schreibt, die Nato-Artikel, die in der brenzligen Situation in Polen fast zum Zug gekommen seien, bieten im Wesentlichen nur eines, nämlich "formelle Ausreden, nichts zu tun oder sofortige Maßnahmen aufzuschieben". Was die Nato jedoch brauche, seien "Mut und Entschlossenheit, schwierige Probleme zu lösen". Die große Frage, die sich bezüglich der Nato nun stelle, sei, wie viele "große Kröten" sie bereit sei "zu schlucken", nur um eine Eskalation zu vermeiden.

    Somit habe der Vorfall die Schwachstellen der Nato deutlich gezeigt. Nämlich die große Ungewissheit darüber, wie die Nato im Falle uneindeutiger Bedrohungen reagieren werde. Die Erleichterung des Westens könne Putin nur ermutigen, denn "offensichtlich ist der Westen bereit, bei vielen Dingen die Augen zuzudrücken, nur um zu vermeiden, in einen direkten Konflikt mit Russland geraten zu müssen".

    "Russische Munition nicht für ihre Präzision bekannt"

    Das "Wall Street Journal" (Bezahlartikel) bezeichnet es als "verständlich", dass die USA und Nato-Generalsekretär Stoltenberg rasch versuchten, Ängste einzufangen. Aber der Vorfall sei kaum beruhigend, denn die Schuld liege immer noch bei Russland.

    Seit dem 24. Februar haben die Russen wiederholt Angriffe nahe der polnischen Grenze ausgeführt. Da russische Munition nicht für ihre Präzision bekannt sei, bedeute jeder dieser Angriffe einen rücksichtslosen Akt, der das Risiko berge, Nato-Gebiet zu treffen und so eine breite Eskalation herauszufordern. "Eine Nato-Reaktion jenseits erleichterten Aufatmens ist angezeigt, damit Russland nicht denkt, Kollateralschäden in Polen seien keine große Sache."

    Gute Noten für Führung in Washington

    Sehr viel positiver sieht die italienische Zeitung "Corriere della Sera" (Bezahlartikel) den Zwischenfall. Er habe demonstriert, dass es trotz der ernsten Lage im Ukraine-Konflikt eine Notbremse gebe. Die Vermutung, dass es sich um einen russischen Angriff auf ein Nato-Land handle, sei früh widerrufen und schließlich nicht dazu instrumentalisiert worden, eine sofortige Vergeltung auszulösen.

    Damit zeige der Vorfall, dass die Gefahr einer Eskalation von der Nato stets ernsthaft berücksichtigt worden sei. Der Führung in Washington stellt der "Corriere" positive Noten aus. Der nationale Sicherheitsberater, Jake Sullivan, Außenminister Antony Blinken und Präsident Joe Biden seien weder "Falken", die nach einem Vorwand Ausschau hielten, um einen Krieg gegen Russland zu starten, noch Befürworter des "regime change" (Regimewechsels), der darauf abziele, Putin beiseitezuschaffen, ohne sich vielleicht zu fragen, wer ihm nachfolge.