Christian Wehrschütz
ORF-Star spricht über Ukraine-Niederlage gegen Putin
Gescheiterte Gegenoffensive, festgefahrene Front – hat Russland den längeren Atem und die Ukraine de facto verloren? Wehrschütz lässt aufhorchen.
Die ukrainische Gegenoffensive, die im Sommer begann, ist definitiv gescheitert. Zwar konnte die ukrainische Armee unter schweren Verlusten die sogenannte Surowikin-Linie der Russen auf einigen Kilometern eindrücken, ein nachhaltiger Durchbruch ist aber nicht gelungen. Die nahegelegene Stadt Tokmak ist aktuell weiter in der Hand von Wladimir Putins Besatzungstruppen.
Und jetzt ist der Winter mit einem gnadenlosen Schneesturm hereingebrochen, neben Granaten bestimmen Eis und Schnee das Schlachtfeld. "Die Soldaten beider Kriegsparteien seien nun vorrangig damit beschäftigt, den widrigen Witterungsverhältnissen zu trotzen", beschrieb kürzlich Militärexperte Franz-Stefan Gady (41) die aktuelle Situation.
"Krieg ist keine exakte Wissenschaft"
Und jetzt? Verliert die Ukraine gar gerade den Krieg? Dieser Frage widmete sich am Dienstag der Osteuropa-Korrespondent Christian Wehrschütz (62) in einem Gastbeitrag in der "Kleinen Zeitung".
"Krieg ist im Gegensatz zur Mathematik keine exakte Wissenschaft, versuchte Antworten auf die Frage, ob die Ukraine den Krieg verliert oder nicht, gleichen somit einer Gleichung mit vielen Unbekannten", betont der ORF-Star. Entscheidend sei auch, was jede der Kriegsparteien unter Sieg oder Niederlage verstehen würden. Gerade das würde nämlich die Beurteilung der jeweiligen Lage, der des Gegners prägen und auch vorgeben, ob diplomatische Verhandlungen Waffenstillstand oder Frieden überhaupt möglich sind.
So hätten viele Militärexperten vor der russischen Invasion und in ihren ersten Tagen ganz offensichtlich den Durchhaltewillen des ukrainischen Volkes unter- und dazu die Fähigkeiten der russischen Armee überschätzt. Ein Fehler, der auch an höchster Stelle in Moskau gemacht wurde. Kiew wurde erfolgreich verteidigt, die Waffenlieferungen des Westens kamen spät aber doch.
Früher Erfolg am Schlachtfeld verhinderte Verhandlungen
Vor diesem Hintergrund sei es nicht verwunderlich, dass die politische Führung der Ukraine und auch westliche Verbündete, insbesondere der damalige britische Premier Boris Johnson, im März und April 2022 den Verhandlungsweg ausschlugen, so Wehrschütz. "Die weitere militärische Entwicklung schien diesem Verhalten zunächst recht zu geben."
Vor allem, weil die Ukraine noch im folgenden Herbst riesige Teile besetzten Territoriums befreien konnte. So wurde der Oblast Charkiw im September zurückerobert, am 11. November zogen ukrainische Truppen in der wichtigen Seehafenstadt Cherson am rechten Dnipro-Ufer ein.
„In diesem Sinne ist es bereits als ukrainischer Sieg zu werten, dass dieses Land als Staat nicht nur westlich des Flusses Dnipro überlebt hat und überleben wird.“
Doch, so der Osteuropa-Experte weiter, diese Sichtweise werde weder von Präsident Wolodimir Selenski, noch einem wesentlichen Teil der politischen Elite oder der Bevölkerung geteilt. "Damals und auch heute noch nicht", sagt Wehrschütz: "Sieg bedeutet für sie die Befreiung aller russisch besetzten Gebiete einschließlich der Krim".
Daran wird derzeit festgehalten, auch wenn das aktuell in weite Ferne gerückt scheint und selbst der ukrainische Generalstabschef Walerij Saluschnyj von einer Pattsituation an der Front spricht und kaum Hoffnungen hegt, daraus ausbrechen zu können.
"Es geht nun wohl nicht mehr um die Hilfe für den Sieg, sondern die Unterstützung für einen ehrenvollen Frieden und für Grenzen, die die Ukraine dank gelebter westlicher Garantien auch wirklich verteidigen kann", analysiert der Kriegsberichterstatter.
„In diesem Sinne bedeutet die staatliche Existenz der Ukraine die rote Linie des Westens, die Russland klargemacht werden muss.“
Auch Putin will keine Verhandlungen
Doch auch im Kreml dürfte die Bereitschaft für Verhandlungen derzeit nahe Null liegen. Wehrschütz mutmaßt, dass Putin "jedenfalls bis zur Präsidentenwahl in den USA" nicht für eine diplomatische Lösung offen sein werde. Der russische Plan scheint auf eines hinauszulaufen: Aussitzen, bis die Unterstützung des Westens bröckelt.
Das riesige Land hat auf Kriegswirtschaft umgestellt, hat zumindest potenziell mehr Rekruten als die Ukraine, die es an die Front werfen könnte. Und: "Russland hat die Sanktionen bisher überlebt, droht aber immer stärker zum Juniorpartner Chinas zu werden, eine Position, die wohl weit weniger attraktiv sein dürfte, als ein Partner des Westens zu sein."
Kriegsmüdigkeit in den eigenen Reihen muss deshalb Wladimir Putin ebenso genaustens beobachten. Nicht die gesamte Elite steht hinter seinen Eroberungsplänen, die zumindest nach außen hin weiter maximalistische Ziele vorgeben:
„Derzeit sieht es so aus, als wären die russischen Territorialansprüche so umfassend und weit über die Halbinsel Krim hinausgehend, dass sie die Ukraine und der Westen nicht akzeptieren können.“
Und solange Putin im Kreml herrscht, wird es auch aus anderen Gesichtspunkten sehr schwer, einen diplomatischen Weg aus diesem Krieg zu finden: "Hinzu kommt, dass in Kiew wohl zu Recht jedes Vertrauen in die Paktfähigkeit von Wladimir Putin fehlt, was Verhandlungen zusätzlich massiv erschwert". Zu oft hat der Russen-Despot in der Vergangenheit schon Sicherheitsgarantien gebrochen.
"Sträflich unterschätzt"
Eine schnelle Lösung gibt es nicht, auch Wehrschütz hat keine parat. In seinen Augen, könne ein Anstoß zu Verhandlungen nur von außen kommen. Er sinniert über einen möglichen Waffenstillstand, "um ein weiteres (demographisches) Ausbluten der Ukraine zu stoppen". Ein solcher wird aber von Kiew vehement abgelehnt, aus Furcht, den Russen damit die Möglichkeit zu geben, für einen Todesstoß Kraft zu sammeln. Auch Putins Truppen müssen für jeden Tag jenseits ihrer Staatsgrenze bluten.
Als noch größere Gefahr sieht der ORF-Korrespondent aber "eine dominant werdende Ukraine-Müdigkeit im Westen und ein fortgesetzter Abnützungskrieg", weil die Zeit seiner Einschätzung nach eher für Russland arbeiten dürfte. Wehrschütz mahnt: Das hätten bereits "ein Franzose und ein Oberösterreicher sträflich unterschätzt".
Es gibt aber einen gewichtigen Unterschied: Dieses Mal ist Russland der Aggressor und kämpft gegen die Ukrainer deren eigenem Land.