Kiew-Korrespondentin
"Ukrainer kriegsmüde, Selenskis Popularität bröckelt"
Der Ukraine-Krieg ist in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund gerückt. Eine Schweizer Korrespondentin erzählt, wie sie das in Kiew erlebt.
Die ukrainische Hauptstadt Kiew ist seit Wochen wieder zum Ziel russischer Angriffe geworden. Das dürfte nur der Anfang sein, viele befürchten, dass sich die Attacken im nahenden Winter deutlich verstärken werden. Die Schweizer "20 Minuten"-Auslandsreporterin Ann Guenter berichtet seit acht Monaten aus der Ukraine über das Geschehen im Land. In einem Interview schildert sie nun die aktuelle Lage und die Einstellung der Ukrainer zu diesem Krieg. Im Folgenden das Gespräch im Wortlaut:
20 MINUTEN: Ann, seit langem hat Russland wieder die ukrainische Hauptstadt angegriffen. Wie hast du das erlebt?
ANN GUENTER: Der letzte Luftalarm ist zwei Stunden her (Stand 13. November 2023 ,16 Uhr). Neuerdings scheint die Mittagszeit bei den Russen beliebt für Angriffe. Und es fällt auf, dass die Angriffe länger dauern als noch im Sommer: Oft wird erst nach drei oder vier Stunden Entwarnung gegeben.
„Die Bevölkerung hat extrem gelitten. [...] Das ist für die Menschen in der Schweiz tatsächlich schwer vorstellbar.“
Wie reagieren die Menschen?
Ironischerweise waren im Sommer und Herbst viele besorgt, dass es im Vergleich zum Frühsommer so selten Alarm gab. Denn das deutet darauf hin, dass Russland die Raketen für den Winter aufspart.
Vor einem Jahr bombardierte Russland gezielt die Energieinfrastruktur. Wie hart war der letzte Winter?
Die Bevölkerung hat extrem gelitten. Ein Kollege wohnt im 22. Stock eines Hochhauses in Kiew. Letzten Winter musste er literweise Wasser in seine unbeheizte Wohnung hochschleppen. Das ist für die Menschen in der Schweiz tatsächlich schwer vorstellbar.
Im Sommer hast du über die schönen Seiten Kiews trotz des Krieges geschrieben. Wie lebt es sich jetzt in der Hauptstadt?
Es ist wie in einer Parallelwelt. Man sieht hier noch Sandsäcke, die Regierungsgebäude sind abgesperrt und gut bewacht. Auch Militärfahrzeuge und Soldaten sieht man. Doch ansonsten bemerkt man nicht mehr viel vom Krieg, die Menschen arbeiten, sind in Cafés oder Restaurants, alles ist geöffnet. Das Leben geht seinen Gang.
„Viele junge Männer haben Angst, eingezogen zu werden. [...] Dafür springen immer mehr Frauen in die Bresche.“
Werden das die verstärkten russischen Angriffe ändern?
Das ist die Sorge. Präsident Selenski hat aber erst gerade in seiner abendlichen Ansprache versichert, dass die Ukraine auf den Winter und die Angriffe besser vorbereitet ist als letztes Jahr.
Das Interesse am Krieg flacht hierzulande [Schweiz, Anm.] ab, die Front bewegt sich nicht. Wie nehmen die Menschen in Kiew das wahr?
Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben sich auf einen langen Krieg eingestellt. Jeder kennt hier jemanden, der im Krieg ist, verletzt wurde oder starb. Es macht sich auch eine gewisse Kriegsmüdigkeit breit. Der Ukraine gehen die Soldaten aus, und viele junge Männer haben Angst, eingezogen zu werden. Ich habe mit mehreren gesprochen, die versuchen, das Land illegal zu verlassen. Dafür springen immer mehr Frauen in die Bresche. In keiner Armee Europas dienen derzeit so viele Frauen wie in der ukrainischen. Und das nicht nur als Ärztinnen und Sanitäterinnen, ich habe auch mit einer Scharfschützin und einer Aufklärerin gesprochen, auch eine Panzerfahrerin gibt es.
„Niemand glaubt, dass der Krieg einfach aufhört, wenn man Russland etwas gibt. [...] Aufgeben ist keine Option.“
Wird die Kriegsmüdigkeit offen geäußert?
Selenskis Popularität bröckelt, weil die Erfolge an der Front ausbleiben. Hätten die Menschen eine Garantie, dass der Krieg mit dem Abtreten von ukrainischen Gebieten an Russland endet, wären wohl viele bereit dazu. Doch das Misstrauen Russland ist verständlicherweise riesig: Niemand glaubt, dass der Krieg einfach aufhört, wenn man Russland etwas gibt.
Was sagt man über Russland?
Der Hass auf Russland ist schon stark spürbar. In meinem Lieblingscafé hängt ein Plakat des Roten Platzes, der in Flammen steht. Das zeigt: Für viele Menschen ist nach wie vor nichts anderes als ein Sieg über Russland und die Rückeroberung der Krim denkbar. Aufgeben ist keine Option.
„Nur weil es keine großen Landgewinne gibt, heißt das nicht, dass die Kämpfe abflachen.“
Man ist also auf den Zermürbungskrieg eingestellt?
Ja. Darunter mischt sich aber die Sorge, dass die Unterstützung aus dem Westen wegbrechen könnte, insbesondere hinsichtlich der US-Wahlen nächstes Jahr.
Du warst schon mehrfach an der Front. Wie sieht der Krieg da aus?
Da wird nach wie vor jeden Tag erbittert gekämpft. Es sterben viele Menschen. Nur weil es keine großen Landgewinne gibt, heißt das nicht, dass die Kämpfe abflachen. Die Menschen nahe der Front sehen und spüren den Krieg unvermittelt und jeden Tag. Bald reise ich nach Saporischschja und in das weiterhin angegriffene Cherson: Dieser Krieg schreibt nach wie vor jeden Tag Geschichten, die sich zu erzählen lohnen.