Die Verhaftung des Bürgermeisters von Istanbul sei nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Vielmehr sei es die Summe aus jahrelanger wirtschaftlicher Not, politischer Bevormundung und der wachsenden Verzweiflung, die die Menschen jetzt auf die Straße treibe. Das sagen eine Anwältin Mitte 30 und eine junge Studentin, die sich aktiv an den Protesten beteiligen. Beide möchten aus Angst vor Repression anonym bleiben.
Verhaftete Journalisten und Boykott
Seit einer Woche gehen in der Türkei Zehntausende Menschen auf die Straße, der Protest nimmt täglich zu. Die Oppositionspartei CHP (Sozialdemokraten) ruft zum Boykott regierungsnaher Firmen und Medien auf. Präsident Erdoğan bezeichnet die überwiegend friedlichen Proteste als "Gewaltbewegung" und droht der Opposition mit Konsequenzen. In Städten wie Istanbul, Ankara und Izmir sind die Kundgebungen verboten.
Seit Beginn der Proteste wurden laut Innenministerium mehr als 1.100 Menschen festgenommen und mehr als 120 Polizisten verletzt. Außerdem sind mehrere Journalisten – auch einer der französischen Nachrichtenagentur AFP – verhaftet worden. Ihnen wird die Teilnahme an verbotenen Demonstrationen vorgeworfen
Ekrem İmamoğlu gilt als Hoffnungsträger der Oppositionspartei CHP und als Präsidentschaftskandidat. Doch Mitte März wurden seine Universitätsdiplome für ungültig erklärt, kurz danach wurde als Bürgermeister von Istanbul abgesetzt und letzten Mittwoch dann mit einem Großaufgebot der türkischen Polizei festgenommen. Imamoğlu und 99 Personen aus seinem Umfeld wird Korruption vorgeworfen. Zudem soll er die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützt haben.
Viele Türkinnen und Türken – wie auch die beiden Frauen – sehen darin eine politisch motivierte Ausschaltung eines Rivalen von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Es sei eine neue Art von Widerstand, der sich in der Folge gebildet habe, beschreibt die Anwältin: "Es geht nicht nur um einen Politiker. Das ist ein Protest der Menschen gegen ein Gefühl der Ohnmacht." Auch die Studentin sieht das so: "Was uns verbindet, ist nicht eine Ideologie – es ist die Aussichtslosigkeit. Und die Wut."
Die Preise für Miete, Lebensmittel und Bildung stiegen rasant, die Löhne hielten nicht mit. "Ein normales Auto kann sich kein Arbeiter mehr leisten. Viele Studierende müssen das Studium abbrechen, weil sie nicht für ein Zimmer zahlen können", sagt die Anwältin. Trotzdem wolle die Studentin, wie viele ihrer Freunde, eigentlich nicht weg aus der Türkei. "Aber so wie es im Moment läuft, kann es nicht weitergehen. Deshalb kämpfen wir jetzt für unsere Zukunft."
Seit den Gezi-Park-Protesten im Jahr 2013 habe es keine so große Mobilisierung der gesamten Bevölkerung mehr gegeben. "Linke, Nationalisten, Kurden, sogar ehemalige Erdogan-Wähler – sie stehen Seite an Seite", sagt die Anwältin. Auch damals sei die Eskalation von einem konkreten Ereignis ausgegangen – doch heute sei die soziale Not größer. "Es geht um hohe Arbeitslosigkeit, Misstrauen in die Justiz und Zukunftssorgen von größtenteils jungen Menschen."
Was hingegen damals wie heute gelte: "Die sture Weigerung der Regierung, die Stimmen der Menschen ernst zu nehmen, sondern stattdessen mit Gewalt zu unterdrücken." In vielen Städten habe die Regierung den Zugang zu großen Plätzen blockiert. "Kindisch", nennt die Anwältin solche Mittel. Auch der Zugang zu Social Media sei zeitweise landesweit gesperrt worden. "Doch das hat die Wut bloß weiter geschürt", sagt die Studentin.
Sie erlebt diesen Protest als Wendepunkt in einer Gesellschaft, die sie sonst als gespalten wahrnimmt. "Zum ersten Mal habe ich gesehen, wie unterschiedlichste Menschen sich gegenseitig schützen, wie sie füreinander singen und mit der Polizei sprechen, ohne aggressiv zu werden." Trotz Festnahmen und Polizeigewalt kehren viele nach der Entlassung zurück auf die Straße. "Wir haben keine Angst mehr – weil es nichts mehr zu verlieren gibt."
Auch wenn die nächste Wahl offiziell erst 2028 ansteht, hoffen viele auf Neuwahlen, erklärt die Studentin. İmamoğlu, so sagen viele, sei der einzige, der Erdogan gefährlich werden könne. "Ob das am Ende Realität wird, hängt von der Widerstandsfähigkeit der Jugend und der Unterstützung aus der breiten Bevölkerung ab."
Auch deshalb nehme sie weiterhin an den Protesten teil. "Richtige Veränderungen sind nur möglich, wenn wir unsere Stimmen erheben. Ich glaube an mein Land und meine Leute – und vor allem an die Macht, die aus Einheit entsteht."