Ukraine
Marcus Keupp: "Strategisch hat Russland schon verloren"
Russland kann in der Ukraine nicht gewinnen. Mit dieser Aufreger-Prognose steht Marcus Keupp ziemlich alleine da. Darum hält er weiter daran fest.
Als einer der wenigen Militärexperten sieht Marcus Keupp eine russische Niederlage in der Ukraine als unausweichlich an. Schon im November 2022 hatte der Leiter der Abteilung Militärökonomie an der Militärakademie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) mit seiner Prognose für Aufregung gesorgt: "Russland wird im Oktober [2023] militärisch verloren haben", sagte er damals. Und daran hält er auch heute noch fest, wie er nun in einem Interview mit der "Zeit" bekräftigt.
Während etwa für Bundesheer-Oberst Markus Reisner wegen der schleppend verlaufenden ukrainischen Gegenoffensive "alle Alarmglocken schrillen" müssten, warnt Keupp vor einer Überbewertung von Geländegewinnen: "Man darf Erfolg oder Misserfolg der Offensive nicht allein in Quadratkilometern messen. Dieser Krieg läuft nicht wie im Zweiten Weltkrieg."
Aktuell versuche die ukrainische Armee, die russische Front mit Angriffen "aufzuweichen", um danach eine Bresche zu schlagen. Das sei im Falle der aktuell knapp 10 Kilometer breiten Delle rund um das Dorf Robotyne an der Südfront schon gelungen. Dort wurde eine erste Hauptverteidigungslinie der Russen bereits überwunden, doch schnell geht bei diesem Vorstoß nichts. "So etwas dauert", weiß auch der Experte.
Die Erwartungen an die Gegenoffensive seinem im Westen von Anfang an zu hoch gewesen, sagt er. "Viele Journalisten und auch Analysten schauen lediglich auf das Verhältnis zwischen zurückgewonnenem und noch besetzen Staatsgebiet. Das ist aber deutlich zu kurz gesprungen. Viele Experten halten zudem an Dogmen aus dem Kalten Krieg oder ihrer militärischen Ausbildung fest und sind unfähig, sich von diesen Denkschemata zu lösen. Dieser Krieg ist anders."
Was wirklich wichtig ist
Weniger plakativ als die Geländegewinne und aber gleichzeitig wichtiger seien die Fortschritte logistischer Art. Auch der wichtige Verkehrsknoten Tokmak und damit die russischen Nachschublinien lägen inzwischen in Reichweite der ukrainischen Artillerie.
Russland habe in diesem Abnutzungskrieg bereits dreimal so viel militärisches Gerät verloren wie die Ukraine und die russische Armee sei nicht in der Lage, diese Verluste adäquat auszugleichen. Deshalb werde immer älteres Material an die Front geschickt. Zudem wären Putins Truppen dadurch gezwungen, ihre Verteidigungslinien immer weiter auszudünnen.
Was wartet hinter der "Surowikin-Linie"?
"Wenn das so weitergeht, können sie irgendwann einen ganzen Frontabschnitt nicht mehr halten, oder sie müssen die Front auf der ganzen Länge zurücknehmen", prognostiziert Keupp die russische Zwickmühle. Für die Ukrainer sei es dabei zentral, den Russen klarzumachen, dass sie sich auf unhaltbaren Positionen befinden. "Und das machen sie, indem sie die russische Logistik unterbinden und ihnen hohe Verluste bei der Artillerie zufügen."
Der ETH-Dozent ist auch überzeugt, dass die Ukraine nach einem Durchbruch der sogenannten "Surowikin-Linie" deutlich schneller vorankommen wird, als bisher. Der Grund: "Die zweite und dritte russische Linie sind schwächer ausgebaut als die erste. Und im Hinterland gibt es keine Minenfelder."
Eine Aussage, bei der das Institute for the Study of War (ISW), das den Ukraine-Krieg seit Beginn mit tagesaktuellen Analysen begleitet, zuletzt deutlich vorsichtiger war. Die Stärke der russischen Verteidigungen und die Dichte des Landminenteppichs in der Tiefe seien unklar, hieß es in einer Einschätzung zu den drei Faktoren, die der Ukraine einen entscheidenden Durchbruch bringen würden:
"Diese Taktik geht auf"
Doch warum ist Keupp hier deutlich zuversichtlicher als andere Beobachter? "Deutsche Militärs und Experten sind einfach immer pessimistischer. Sie sind überzeugt, dass nur der rasche Bewegungskrieg Erfolg versprechend ist. Das stimmt aber nicht", erklärt der Militärökonom, wieso sich seine Schlussfolgerung so gravierend unterscheidet. Die Ukrainer zerstören die gegnerische Artillerie und Logistik hinter der Front: "[Sie] erhöhen stetig den Druck auf die Russen. Diese Taktik geht auf."
Für den Herbst erwartet er zudem keine Abnahme der Dynamik auf dem Schlachtfeld. Die Rasputiza, die Schlammperiode, beginne meist Ende Oktober, "aber sie stellt diesmal kein Problem für die ukrainische Armee dar", sagt er. "Der Süden des Landes ist eine trockene Steppe, dort können Panzer und Militärfahrzeuge auch im Herbst noch gut fahren." Vielmehr seien die Russen in ihren Gräben von Regen und Schlamm betroffen. "Die Befreiung von Cherson im vergangenen Jahr fand im November statt – also genau in der angeblich so lähmenden Schlammperiode."
"Strategisch hat Russland schon verloren"
An seiner bald ein Jahr alten Vorhersage, dass Russland diesen Krieg verlieren werde, hält der Deutsche fest: "Ich stehe unverändert zu dieser Prognose. So wie der Krieg läuft, kann das russische Regime nicht gewinnen. Strategisch hat es schon verloren."
Dabei stellt er auch klar, dass dies leider nicht gleichzeitig auch ein Ende der Kampfhandlungen bedeute. Das sei auch Wladimir Putin geschuldet: "Wenn Putin ein militärisch rationaler Mensch wäre, hätte er längst eingesehen, dass er den Krieg nicht mehr gewinnen kann. Jetzt hat er Angst, dass sein Regime komplett kollabiert, sollte er seine Truppen plötzlich zurückziehen." Der Kreml-Despot müsse nun eine Exit-Narrative finden, "um die Niederlage in einen 'begrenzten Erfolg' umzumünzen".
"Bis dahin ist der Krieg vorbei"
Die Sorge, dass Russland diesen Krieg im Falle einer drohenden Niederlage auf eine nukleare Stufe eskalieren werde, teilt Keupp nicht: "In Deutschland orientieren sich die Menschen oft an ihren Ängsten und nicht an den vorliegenden Fakten. Deswegen fruchtet hierzulande auch die russische Drohung vom Einsatz von Atomwaffen so gut."
Das sei aber nichts anderes als ein Bluff und reine Propaganda. "In Wahrheit zieht das russische Regime den Schwanz ein, sobald der Westen Stärke zeigt."
Doch was, wenn der Westen stattdessen einknickt? In den USA wird immerhin demnächst gewählt und der Republikaner-Kandidat Donald Trump hat bereits angekündigt, den Krieg sofort beenden zu wollen. Für Keupp würde selbst ein Trump-Sieg nichts an der russischen Niederlage ändern: "Sollte Donald Trump die Wahl gewinnen, dann kommt er im Frühjahr 2025 an die Macht. Bis dahin ist der Krieg vorbei und die Ukrainer haben gewonnen."