Ukraine

"Um Gottes Willen!" – Atom-Experte im ORF entsetzt

Kämpfe um ein AKW in der Ukraine sorgen auch die Österreicher. Ein Nuklearexperte gibt im ORF eine Einschätzung des Risikos für unser Land.

Roman Palman
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Martin Thür begrüßte am 4. März 2022 Bundesheer-Brigadier Philipp Eder und Nuklearexperte Georg Steinhauser in der ZIB2.
Martin Thür begrüßte am 4. März 2022 Bundesheer-Brigadier Philipp Eder und Nuklearexperte Georg Steinhauser in der ZIB2.
Screenshot ORF

Die Situation in der Ukraine ist weiter dramatisch. Russische Truppen kreisen Kiew weiter ein, der Vormarsch steckt aber wegen des matschigen Terrains in einem Mega-Stau fest. In der Ostukraine wurde in der Nacht das Atomkraftwerk Saporischschja von russischen Truppen beschossen.

In der ZIB2 mit Martin Thür Freitagnacht waren Bundesheer-Brigadier Philipp Eder, Leiter der Abteilung Militärstrategie im Verteidigungsministerium, und der Nuklearexperte Georg Steinhauser als Interview-Gäste geladen.

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"Wahrheit wird in der Mitte liegen"

Den Anfang machte der Offizier mit einer Einschätzung des russischen Vorgehens: "Ich denke, dass der Plan ursprünglich anders ausgesehen hat." Mit einem schnellen Schlag auf Kiew hätte Putin geglaubt, die ukrainische Führung in die Flucht zu schlagen und dann das Land weitgehend kampflos zu übernehmen. Das sei ganz offensichtlich nicht gelungen.

Bundesheer-Brigadier Philipp Eder in der ZIB2 bei Martin Thür am 4. März 2022.
Bundesheer-Brigadier Philipp Eder in der ZIB2 bei Martin Thür am 4. März 2022.
Screenshot ORF

Putins Plan B

Deswegen eskaliert die russische Armee jetzt die Gewalt. Hätte man ursprünglich noch zivile Objekte schonen wollen, um die Bevölkerung nicht gegen die Invasoren aufzubringen, gibt es diese Zurückhaltung jetzt nicht mehr. "Das hat sich doch geändert. Man sieht, dass schon massiv zivile Infrastruktur beschossen und bombardiert wird". Putins Plan B kostet mit jedem Tag mehr Unschuldigen ihre Leben.

Nachschub

Schon jetzt seien rund 75 Prozent der einsatzbereiten Truppen Russlands in der Ukraine aufgestellt. Dem Kreml-Chef geht der Vormarsch offenbar nicht schnell genug, denn laut Brigadier Eder gebe es Berichte, dass weitere Soldaten aus der Tiefe des Landes nachgezogen werden. Und: Im schlimmsten Fall könne Putin immer noch eine Mobilmachung verordnen.

Pannen, Pech und Pleiten?

Während der Kreml keine Pannen eingesteht, sprechen die Ukrainer davon, dass die russischen Armee beinahe genauso viel mit dem eigenen Gerät zu kämpfen habe wie mit den Verteidigern. "Die russische Armee hat, bei den wenigen Übungen wo Militärattachés geladen waren, doch immer einen sehr guten Eindruck gemacht", erinnert Eder. Es könne aber sein, dass hier top ausgerüstete Eliteverbände zur Schau gestellt wurden und die Realität der Truppe eine andere sei.

Bundesheer-Brigadier Philipp Eder in der ZIB2 bei Martin Thür am 4. März 2022.
Bundesheer-Brigadier Philipp Eder in der ZIB2 bei Martin Thür am 4. März 2022.
Screenshot ORF

Auf der anderen Seite wolle die Ukraine natürlich weltweit das Narrativ vermitteln, dass Putins Truppen weit weniger erfolgreich seien, als angenommen. "Die Wahrheit wird in der Mitte liegen."

Keine Wunschliste

"Es ist kein Geheimnis, dass das Bundesheer seit Jahrzehnten unterfinanziert ist. Viele Geräte sind an ihr Lebensende gekommen, hätten schon längst ausgetauscht werden müssen", mahnt der Offizier. Wegen der russischen Bedrohung will die Regierung nun das Heeres-Budget auf 1 Prozent des BIP erhöhen. Mehr Geld bringe auch mehr Qualität und Reaktionsfähigkeit, sagt Eder. "Die Reaktionsfähigkeit heißt, dass Soldaten das Gerät haben müssen und sich nicht ausborgen können."

Die von Heeres-Seite lange gestellten Forderungen nach Finanzierung seien "keine Wunschliste, sondern eine Notwendigkeit, um den eigenen Auftrag erfüllen zu können."

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"Wirklich bedrohlich"

Direkt darauf fand Nuklearexperte Georg Steinhauser von der Universität Hannover via Teleschaltung drastische Worte zu den Kampfhandlungen rund um das Atomkraftwerk Saporischschja: "Das ist schon ein wirklich bedrohliches Szenario. Das hat es überhaupt noch nie gegeben, dass ein Land die Kontrolle über ein laufendes Atomkraftwerk verloren hat." Dass in der Nähe auch noch geschossen werde, sei wirklich bedenklich.

Nuklearexperte Georg Steinhauser in der ZIB2 bei Martin Thür am 4. März 2022.
Nuklearexperte Georg Steinhauser in der ZIB2 bei Martin Thür am 4. März 2022.
Screenshot ORF

"Schlimmstenfalls ein Fukushima-Szenario"

Zwar könne selbst eine fehlgeleitete Granate die 1,2 Meter dicke Panzerung der Reaktoren wohl kaum durchdringen, doch könnte wichtige Infrastruktur außerhalb beschädigt werden. Steinhauser betont, dass solche Leichtwasser-AKWs eine Rundumbetreuung bräuchten: "Wenn die Mannschaft flieht, da kann man nicht einfach die Tür zusperren. Wenn die Kühlung nicht mehr gewährleistet werden kann, droht eine Kernschmelze und schlimmstenfalls ein Fukushima-Szenario."

Blackout

Die Gefahr der Kernreaktoren in russischer Hand ist dennoch real. Putin könnte diese als Druckmittel für die Ukraine einsetzen und einen Blackout auslösen. Und dann wird es auch für die anderen AKWs schnell kritisch, denn so kurios es klingen mag, sie sind auf eine Stromversorgung angewiesen, um ihre Kühlpumpen am Laufen zu halten.

Tschernobyl

Wenig Sorgen macht er sich hingegen um den bereits in russische Hände gefallenen Havarie-Reaktor von Tschernobyl. Die Materialien dort seien bereits weiter zerfallen, "wenn man die ein paar Monate in Ruhe lässt, wird nicht viel passieren."

Nuklearexperte Georg Steinhauser in der ZIB2 bei Martin Thür am 4. März 2022.
Nuklearexperte Georg Steinhauser in der ZIB2 bei Martin Thür am 4. März 2022.
Screenshot ORF

Messnetz

Sollte es doch zu einem neuen Reaktorunfall in der Ukraine kommen und das dortige Strahlenmessnetz versagen, würde Europa es wohl erst merken, wenn die radioaktive Wolke über die Grenze zieht und den nächsten Messpunkt im Nachbarstaat passiert. Das dauere je nach Windrichtung und Stärke rund 24 bis 36 Stunden. Für Steinhauser ist das "sehr rasch".

Jodtabletten

Bei der Frage zur Vorratshaltung oder gar Einnahme von Jodtabletten könnte man den Experten gedanklich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen hören: "Um Gottes Willen, bloß nicht einnehmen", antwortete er so entsetzt wie bestimmt. Es gebe kein Szenario, wo die Einnahme nach einem ukrainischen Vorfall in Österreich notwendig werde. "Dafür sind wir einfach zu weit entfernt. Der dafür notwendige Grenzwert für die Schilddrüsendosis wird [in Österreich] sicher nicht erreicht." Nachsatz: "Für die Ukraine schaut es natürlich anders aus."

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    Nach ukrainischen Medienberichten ist es in der Nacht zu Mittwoch zu Gefechten mit der russischen Armee gekommen. In Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes, haben russische Soldaten ein Krankenhaus angegriffen, meldete die Agentur Unian.
    Nach ukrainischen Medienberichten ist es in der Nacht zu Mittwoch zu Gefechten mit der russischen Armee gekommen. In Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes, haben russische Soldaten ein Krankenhaus angegriffen, meldete die Agentur Unian.
    SERGEY BOBOK / AFP / picturedesk.com