Alkoholmissbrauch

"Ich bin die Tochter eines gewalttätigen Alkoholikers"

Sabine Schütz wuchs mit einem alkoholabhängigen Vater auf. Sie möchte nun Kindern in ähnlichen Situationen vor einer "verlorenen Kindheit" bewahren.

Daniela Hamberger
"Ich bin die Tochter eines gewalttätigen Alkoholikers"
Sabine Schütz wuchs mit einem alkoholabhängigen Vater auf
Heute

Die Oberösterreicherin Sabine Schütz (49) weiß, was es heißt, als Kind in einer Familie mit einem psychisch erkrankten, alkoholsüchtigen Elternteil aufzuwachsen. Die ersten 12 Jahre ihres Lebens erlebte sie die Sucht und das gewalttätige Verhalten ihres Vaters tagtäglich. "Kindern wird in solchen Familien ganz oft eine völlig falsche Normalität vorgelebt. Als Kind versteht man gar nicht, was da eigentlich passiert. Aber man weiß und spürt irgendwie trotzdem, dass etwas nicht stimmt", erinnert sich Sabine im Gespräch mit "Heute".

"Heute bin ich – da ich ganz offen über dieses Thema spreche – sozusagen eine 'Gesetzesbrecherin'. Denn Schweigen war und ist in betroffenen Familien von der ersten Sekunde an oberstes Gebot – innerhalb der Familie und nach außen hin. Es ist so selbstverständlich wie atmen. Vielleicht hatte ich deshalb manchmal dieses Gefühl, ersticken zu müssen, damals, während ich vieles niedergeschrieben habe, immer öfter auch darüber gesprochen habe".

Unter Alkohol leiden diejenigen am meisten, die ihn nicht konsumieren. Kinder.
Sabine Schütz
Tochter eines alkoholabhängigen Vaters

Es sei eine große psychische, aber auch physische Belastung, denn Kinder müssen von klein auf lernen, sich der destruktiven Umgebung in der Familie anzupassen. "Ich beobachtete meinen Vater häufig, wenn er nach Hause kam. Demnach entschied ich schnell, ob ich laut sein durfte, lachen durfte oder ob es besser war, still zu sein, unsichtbar zu sein". Sie wusste auch, dass der Vater die Mutter immer wieder einmal schlägt, wenn er unter Alkoholeinfluss stand, doch gesehen hat sie das nie, immer nur gehört, oder dann die Verletzungen bei der Mutter gesehen.

"Die wurden auch niemals angesprochen, ausgesprochen. Weder von meinen Eltern noch von meinem Umfeld – und daher natürlich auch nicht von mir." Das kann man als kleines Kind alles gar nicht begreifen, was da wirklich passiert. Es fühlt sich jedoch schlecht an, Angst und Anspannung sind häufige Begleiter, aber man kennt es ja nicht anders", so die Oberösterreicherin. Solch belasteten Kindern wird eine unbeschwerte und glückliche Kindheit genommen. "Und es kommt noch dazu, dass man als Kind seine Eltern ja liebt, man will sie ja lieben dürfen, auch wenn sie Leidvolles tun – die Loyalität von eigenen Kindern ist meist unendlich groß".

Ich wollte keine Familienmuster an die nächste Generation weitergeben.
Sabine Schütz
Hat sich bewusst gegen Kinder entschieden

Jetzt als erwachsene Frau ist es Sabine auch sehr wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass nicht nur Kinder aus prekären Familienverhältnissen betroffen sind. Dieses Klischee halte sich bereits seit vielen Jahrzehnten, doch auch Bildung und Geld würden nicht vor diesem Problem schützen. "In diesen Familien wird so ein Thema meist noch mehr unter den Teppich gekehrt, um den Schein nach außen zu wahren. Gebildet sein und süchtig? Das passt schlecht ins gesellschaftliche Gesamtbild. Und es hat natürlich auch sehr viel mit Scham zu tun. Ich sage jedoch immer: Gewalt geht auch im Anzug, geschlagen werden geht auch im Abendkleid. Einfacher ist es in solchen Familien absolut nicht".

Prekäre Familien würden wahrscheinlich nur deshalb mehr auffallen, weil sie vor allem bei Behörden öfter bzw. schneller in den Fokus geraten. In beiden Familien würden Kinder gezwungen, besonders schnell erwachsen zu werden. Ein großer Fehler, wie die Oberösterreicherin sagt.

Ich bin nicht arm, ich brauche kein Mitleid.
Sabine Schütz
Über ihre Kindheit mit einem alkoholabhängigen Vater

"Ich selbst komme aus einer ganz 'normalen' Familie der sogenannten Mittelschicht - mit Haus und Garten. Niemand außerhalb unseres sozialen Umfelds hätte uns in diese Schublade gesteckt, wo der Vater Alkoholiker ist und seine Frau schlägt, manchmal auch das Kind". Nach dem Tod ihres Vaters, er starb bei einem Autounfall, als sie 12 Jahre alt war, begann sie schon als Jugendliche, das Thema erstmals kritisch zu hinterfragen. Als junge Erwachsene merkte sie, dass in ihrer Familie lange Zeit etwas wirklich schiefgelaufen war. "Das Bewusstsein dafür kam erst mit den Jahren, aber da war der "Schaden" bereits angerichtet". Sabine hatte deswegen oft das Gefühl "abnormal" oder "falsch" zu sein, nicht in die Gesellschaft zu passen. Sie konnte vieles nicht einordnen und litt sehr darunter.

"Versteckt. Hinter einer perfekten Fassade. Flüchtete als Jugendliche und auch als Erwachsene – wenn ich in Gesellschaft war – immer wieder einmal in das mir so vertraute 'Lösungsmittel' Alkohol. Um mich angepasster und zugehöriger zu fühlen, um extrovertierter zu sein, geselliger. Alkohol war für mich viele Jahre ganz normaler – immer wieder auch abnormaler – Teil meines Lebens. Ich hatte jedoch stets diese große Angst im Hinterkopf, wie mein Vater zu werden, Alkoholikerin zu werden, abhängig zu werden. Durch diese Angst und die umfassenden Infos der letzten Jahre kann ich heute glücklicherweise sagen: 'Not mine'."

Mit 29 rutschte sie nach einem Schicksalsschlag in eine schwere Depression. "Ich begann irgendwann, mich selbst zu verletzen, um mich durch den Schmerz wieder selbst fühlen zu können, um einen manchmal unerträglichen inneren Druck loszuwerden". Sie hörte auf zu essen und erkannte sich nicht wieder. "Ich wollte wieder ich selbst sein, ich wollte den Grund kennen, warum mich ein Verlust so dermaßen aus der Bahn hatte werfen können. Dabei bin ich schnell bei der Familienkrankheit Alkoholismus gelandet. Es war auch der Start für mein Projekt".

Ihre Mutter sei – vor allem nach dem Tod ihres Vaters – immer eine äußerst wichtige und stabile Säule in ihrem Leben gewesen. Doch zu Lebzeiten wollte sie ihr mit den ganzen Infos zu den Auswirkungen so eines Familiensystems nicht noch mehr Sorgen bereiten. Daher begann sie mit der wirklichen Aufarbeitung erst nach dem Tod ihrer Mutter.

Sabines Freundeskreis war dabei eine starke Stütze, doch auch bei der hausärztlichen und therapeutischen Begleitung hatte sie damals viel Glück und ein weiterer besonders wichtiger Faktor – der Arbeitgeber ist damals voll zu und hinter ihr gestanden. „Das Wissen, dass ich wieder an meinen Arbeitsplatz zurückkehren konnte, war für mich eine sehr wichtige Unterstützung", erzählt sie. Zuvor hatte sie jahrelang gelernt, ihre Gefühle zu verstecken. "Es ist manchmal viel Unterstützung nötig, um aus so einem Thema herauszukommen. Man darf niemanden verurteilen und jeder muss es auf seine Weise handhaben".

Sie selbst hat es geschafft, ihre Kindheit in einem destruktiven Umfeld soweit aufzuarbeiten, dass sie nun mit beiden Beinen im Leben stehen kann – unabhängig sein kann.. Ihr Ziel sei es, so vielen Menschen wie möglich die Augen zu öffnen, denn in den meisten Fällen können Erwachsene betroffenen Kindern helfen. Sie möchte keine Schuldigen suchen, sondern Lösungen finden. Für Kinder alkoholkranker Elternteile ist einer der wichtigsten hilfreichen Faktoren eine stabile, wohlwollende, liebevolle sowie unterstützende Bezugsperson außerhalb der Kernfamilie“.

Zu viele Menschen würden noch immer wegsehen, wenn es um "hässliche" Themen innerhalb von Familien geht. In Familien sei generell zu viel erlaubt, würde zu viel schöngeredet werden. "Alkohol ist eine legale Droge, ein Zellgift, das in Österreich gesellschaftlich, vor allem traditionell tief verankert ist. Es gibt auch – glaube ich – keinen Bereich, bei dem die Täter-Opfer-Umkehr so extrem ist, wie bei Beziehungstaten und familiären Angelegenheiten.

Menschen sehen bei 'hässlichen' Themen einfach weg
Sabine Schütz
Betroffene

Bei übermäßigem Alkoholkonsum wird immer noch viel zu oft weggesehen – die kleinen betroffenen Kinder werden nach wie vor meist völlig übersehen". Umso wichtiger ist das Umfeld solcher Kinder, denn nur dieses könne derzeit am ehesten handeln." Zur Not muss die Polizei geholt werden, wenn tatsächlich ein zu hohes Gewaltpotenzial vorhanden sei oder man sich durch Zivilcourage selbst gefährden würde (das würde keinem der Beteiligten nützlich sein).

Beispiel aus Sabines Kindheit: "Ich war mit meinem Vater am Sportplatz. Am Weg nach Hause war er bereits so betrunken, dass er eigentlich nicht mehr mit dem Rad fahren konnte. Aber er tat es und ich saß am Gepäckträger. Auf der Fahrt streifte er einen Randstein und wir stürzten. Ich hatte Glück und fiel auf eine Wiese, hatte nur Schürfwunden. Aber das hätte schlimm ausgehen können. Genau das sind Situationen, von denen ich spreche, jeder sieht es, aber keiner sagt etwas. Man hätte ihm das Fahrrad wegnehmen müssen.“

Im Laufe der rund 15 Jahre, in denen sie sich privat besonders intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat, habe sich so nur wenig verändert. Die Anzahl der betroffenen Kinder pro Schulklasse sei mit zwei bis drei gleichbleibend hoch und durch die Lockdowns während der Pandemie haben sich Sucht und Gewalt noch verstärkt. "Die Situation für die Kinder muss teilweise unerträglich gewesen sein. Sie waren mit den suchtkranken und teils gewalttätigen Elternteilen sozusagen eingesperrt". Täter, können zu tickenden Zeitbomben werden – vor allem nach einer Wegweisung, die durch Experten noch viel mehr entschärft werden müssen.

Sabine, sie arbeitet eigentlich im Marketingbereich, hat, um die Auswirkungen ihrer Kindheit besser verstehen zu können, auch eine sozialpädagogische Ausbildung gemacht. Sie hat recherchiert, Fachbücher gelesen, sich mit Fachleuten und Betroffenen ausgetauscht. "Ich wollte meinen Fokus auf die Ursachen legen und nicht nur auf die Symptome. Eine Sucht bzw. destruktive Verhaltensmuster werden oft über Generationen weitergegeben. Ich wollte das für mich stoppen".

Deshalb habe sie sich auch bewusst gegen eigene Kinder entschieden, um keinesfalls eingelernte Muster weiterzugeben. "Ich hatte viel zu große Angst, unbewusst Schäden weiterzugeben, an die meine Kinder später leiden müssten. Ich kenne aber auch Betroffene, die selbst großartige Familien haben, wundervolle Eltern sind. Manche haben sich Unterstützung geholt, um ein möglichst harmonisches Familienleben haben zu können."

Ihr großes Ziel ist es, Kinder aus Familien mit suchtkranken Eltern vor den Vorhang zu holen. "Sie müssen endlich zu einem Thema werden, denn keiner redet über sie, aber bei ihnen wird der größte Schaden angerichtet. Sie brauchen uns alle, unser aller Unterstützung. Die Würde jedes Menschen sollte bereits in der Kindheit beginnen, dafür sollten wir uns alle einsetzten, denn: Kinder sind unsere Zukunft, sie sind in den meisten Fällen das Ergebnis des Handeln von uns Erwachsenen".

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