Politik

"Diese Leute musst du dort aus dem Dreck rausholen"

Zigtausende Menschen leben im Dreck, Hilfe vor Ort funktioniert nicht. 100 Familien sollen aufgenommen werden, doch es fehlt das Okay der Regierung.

Leo Stempfl
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Katharina Stemberger &amp; Klaus Schwertner im <em>"Heute"</em>-Interview
Katharina Stemberger & Klaus Schwertner im "Heute"-Interview
"Heute"

Das Moria-Camp auf Lesbos (Griechenland) war für rund 3.000 Bewohner konzipiert, zeitweilig lebten dort über 20.000. Dementsprechend katastrophal waren die Lebensbedingungen – Rattenbisse und Krankheiten standen an der Tagesordnung. Als es aufgrund der ersten Corona-Fälle zur allgemeinen Quarantäne kommen sollte, brach ein Brand aus, der einen Großteil des Lagers zerstörte.

Die Aufnahme von unbegleiteten Kindern beziehungsweise 100 Familien wurden von der Opposition, der Kirche und sogar einigen ÖVP-Bürgermeistern gefordert. Doch die Bundesregierung unter Sebastian Kurz blieb hart. Man wolle auf "Hilfe vor Ort" setzen, alles andere würde neue Flüchtlingsströme auslösen. Kritik an dieser "unmenschlichen Linie" kam sogar von der FPÖ.

Rund 6.000 Ex-Bewohner leben nun im Ausweichlager Kara Tepe – rund ein Drittel davon sind Kinder oder Jugendliche. Die Umstände sind dort – wie auch in den übrigen Lagern auf den griechischen Inseln – alarmierend. Das, obwohl über 2.000 das Asylverfahren bereits durchlaufen und Schutz gewährt bekommen haben. Genauere Einblicke und Informationen geben Katharina Stemberger (Initiatorin von "Courage – Mut zur Menschlichkeit") und Klaus Schwertner (Geschäftsführer der Caritas Wien) im "Heute.at"-Interview.

Kartenhäuser

"Die Situation ist auf Lesbos wie auf den anderen griechische Inseln unverändert grauenhaft", schildert Stemberger. "Es sind Zeltlager ohne festen Boden." Diese Zelte werden auch regelmäßig überflutet oder einfach von Wind verblasen. "Wie Kartenhäuser", führt Schwertner aus. "Hier besteht nach wie vor dringender Handlungsbedarf."

"Diese Leute musst du dort aus dem Dreck rausholen."

Stand Februar leben in den Lagern auf allen griechischen Inseln rund 17.000 Menschen, weitere 100.000 auf dem Festland. Insbesondere Lesbos wurde zum Symbol der Überforderung Griechenlands und der menschenunwürdigen Bedingungen. "Dort kannst du keine Hilfe vor Ort leisten. Diese Leute musst du dort aus dem Dreck rausholen", fordert Katharina Stemberger.

Geordnete Rettungsaktion

Weil ein großer Teil dieser Menschen – rund 30 Prozent – bereits einen Asylstatus inne hat, werden diese auch in Europa bleiben. Über zehn Staaten haben sich deswegen für eine geordnete Rettungsaktion ausgesprochen und teilweise sogar schon Familien aufgenommen. "Österreich bis heute keine einzige", so Schwertner.

Die übrigen Menschen harren seit Jahren in den Camps aus und dürfen diese teilweise auch nicht verlassen, weil sich ihr Asylverfahren dermaßen in die Länge zieht. Das konkrete Ziel laut Stemberger: "Wir setzen uns für eine geordnete Rettung ein. Das heißt: Als ersten Schritt 100 Familien werden in Österreich an ganz bestimmte Plätze gebracht – wo sie Willkommen sind, wo es ein know-how und eine große Bereitschaft gibt."

100 Familien scheint nicht viel, trotzdem sprechen Kritiker von "Symbolpolitik". Dagegen verwehrt sich Klaus Schwertner scharf und erzählt von einer konkreten Familie, die er bei einem seiner Besuche vor Ort kennen lernen durfte. Das 10-jährige Mädchen erzählte ihm von ihrer Flucht aus Aleppo und dass sie gerne Lehrerin werden möchte, weil sie es wichtig findet, dass alle Kinder in die Schule gehen. Mittlerweile hat die Familie sogar einen positiven Asylbescheid bekommen, doch in Griechenland droht ihnen aufgrund einer Gesetzesänderung die Obdachlosigkeit. Solchen Familien soll von Österreich geholfen werden.

Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) mit einer Lieferung österreichischer Hilfsgüter in Athen am Mittwoch, 16. September 2020, anlässlich der Flüchtlingskrise in Moria.
Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) mit einer Lieferung österreichischer Hilfsgüter in Athen am Mittwoch, 16. September 2020, anlässlich der Flüchtlingskrise in Moria.
GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com

Hilfe vor Ort

Den bishergen Ansatz fasst Stemberger zusammen: "Die Hilfe vor Ort ist sicherlich gut gemeint. Sie funktioniert nur dort einfach nicht." Grundsätzlich sei Hilfe vor Ort wichtig, dürfe aber nicht zum politischen Kampfbegriff werden, mahnt Schwertner. Im konkreten Fall stößt sie allerdings an ihre Grenzen, "beziehungsweise gibt es den politischen Willen auch nicht, diese Hilfe vor Ort ernstgemeint zu leisten."

"Ihr dürft's nicht helfen."

"Es gibt eine hohe Bereitschaft diese Familien auch aufzunehmen", schildert Klaus Schwertner seine Erkenntnisse aus den Gemeinden und Gesprächen mit Bürgermeistern. Es scheitert schlicht am Okay der Bundesregierung. Man will deswegen jenen rund 50 Prozent der hiesigen Bevölkerung eine Stimme geben, die sagen "selbstverständlich hilft man da". Schließlich liegt das in der österreichischen Tradition. "Zum allerersten Mal haben wir eine Regierung die sagt: Ihr dürft's nicht helfen. Und das können wir so nicht akzeptieren", stellt Stemberger klar.

Von der Angst wegkommen

Mit dem oft verbreiteten "Lügenmärchen" des Pull-Faktors will die Initiative ebenso aufräumen. Bereits 2016 hat es eine riesige Rettungsaktion gegeben, 20.000 Menschen wurden direkt aufgenommen. "Das hat weder dazu geführt, dass es mehr Ankünfte auf den Ägäis-Inseln gegeben hat, noch hat das dazu geführt, dass es mehr Tote im Mittelmeer gegeben hat. Das ist kein Pull-Faktor, wenn man 100 Familie dort rausholt und rettet."

"Ich glaub, wir müssen ein bissl von der Angst wegkommen", sagt Stemberger. Zu sagen "Ich schließe Routen" und "Es ist nicht da, weil ich nicht hin schaue" findet sie "unverantwortlich". Es muss zu einem Umdenken kommen, es muss mit weniger Angst betrachtet werden.

Aus unserem Glück, in Österreich quasi "bei der Geburten-Lotterie einen Dreifach-Jackpot" gemacht zu haben, ergibt sich laut Schwertner auch die Verantwortung "zumindest einen überschaubaren Beitrag zu leisten mit dieser Aufnahme von 100 Familien und Kindern."

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