"Heute"-Kommentar

Argentiniens TikTok-Präsident und seine Spur nach Wien

Vier geklonte Mastiffs, eine Frisur wie "Wolverine", zwei Uni-Abschlüsse. Javier Milei lässt die Welt hyperventilieren. Wer ist der neue Präsident?

Christian Nusser
Argentiniens TikTok-Präsident und seine Spur nach Wien
Wissen, was ist – eine Kolumne von Dr. Christian Nusser
Wissen, was ist – eine Kolumne von Dr. Christian Nusser

Erdrutschsieg "El Loco", den Verrückten, nennen ihn seine Anhänger und sie meinen das nett. In der Nacht auf Montag gewann Argentiniens neue politische Rabiatperle überraschend deutlich die Stichwahl ums Präsidentenamt. 55,69 Prozent setzen in dem krisengebeutelten Land nun alle ihre Hoffnungen auf Javier Milei und seine "La Libertad Avanza" („Die Freiheit schreitet voran“). Und die Welt reibt sich die Augen.

Vorbild für Politiker Als "Mini-Trump" wird Milei (53) gern bezeichnet, aber gegen den extrovertierten, vollmundigen Rechtspopulisten wirkt der frühere US-Präsident wie ein adrett gescheitelter Musterschüler aus einem Elite-Gymnasium. Es ist ein neuer Politikertypus, der hier kreiert wurde, nicht in vielen Ländern der Welt vorstellbar, durchgeknallt inszeniert, aber nun einmal da. Argentinien mag weit weg sein, aber wie bei Trump werden einige Politiker und ihre Berater den Triumph des Außenseiters studieren und sich fragen: Was kann ich mir abschauen?

Cosplayerin stylte ihn um

"Der Verrückte" Vielleicht das: Javier Milei ist der erste TikTok-Präsident der Welt. Während sich Gegenkandidat Sergio Massa klassisch präsentierte, flutete "El Loco" das Internet mit absurd überdrehten Videos. Über YouTube holte er die Massen, meist zweitverwertete er Clips von verhaltensauffälligen TV-Auftritten, über TikTok die Jungen (ab 16 darf gewählt werden). Eine Traube begeisterter Influencer im College-Alter begleitete Milei auf allen Reisen durchs Land, filmten ihn ohne Bezahlung, stellten die Clips online– sie wurden von Millionen gesehen.

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    Argentiniens neuer Präsident Javier Milei, Freundin Fátima Flórez
    Argentiniens neuer Präsident Javier Milei, Freundin Fátima Flórez
    Rodrigo Abd / AP / picturedesk.com

    Wie Wolverine So kaperte er sich den Wahlkampf. Es gab einfach ständig was zu berichten. Über seine vier Mastiff-Hunde, alle über 100 Kilo schwer, alle benannt nach konservativen Ökonomen, alle Klone seines Lieblings-Mastiffs Conan. "Vierbeinige Kinder" nennt er sie, er lasse sich von ihnen sogar politisch beraten, erzählte Lilia Lemoine (43) dem "Guardian". Die Cosplayerin spielt eine bedeutsame Rolle im Gesamtkunstwerk Milei. Sie gestaltete seinen Style, Lederjacke, Haarschopf, lange Koteletten, "eine südamerikanische Fusion aus Elvis Presley und Wolverine", sagt sie.

    Orgien und Liebe zu Tantra-Sex

    Papst ist "Idiot" Wie ein Raubtier präsentiert sich Milei tatsächlich bei Auftritten, die schnell Kult wurden. Von einer Lkw-Ladefläche aus brüllte er Parolen ins Publikum, während sein Team gefälschte 100-Dollar-Scheine mit dem Konterfei seiner Hunde in die Menge warfen. Den argentinischen Papst nannte er "Idioten", den Klimawandel "Teil einer kommunistischen Agenda", China, immerhin zweitgrößter Handelspartner des Landes, "Attentäter". Den eigenen Staat verglich er mit "einem Pädophilen im Kindergarten, die Kinder angekettet und in Vasline gebadet". In einem älteren Video dozierte er über seine Teilnahme an Orgien, seine Vorliebe für Tantra-Sex, er ejakuliere alle drei Monate, packte er aus. Ungefragt!

    Wirtschafts-Doktor Es gibt auch das zweite Gesicht. Style-Guru Lemoine nennt ihn höflich, privat spreche er leise, öffne einem die Tür. Und er ist nicht dumm. Milei studierte Wirtschaftswissenschaft, erlangte erst einen Master, dann einen Doktortitel, schrieb mehrere Bücher über Wirtschaft und Politik, unterrichtete 20 Jahre. Er ist Anhänger der "Österreichischen Schule der Nationalökonomie", die vor allem im englischsprachigen Teil der Welt viele Anhänger hat. Die wirtschaftsliberale Strömung, gegründet um 1870 von Carl Menger und Eugen Böhm von Bawerk (zierte den 100-Schilling-Geldschein), weitergetrieben von Friedrich Hayek (Nobelpreis 1974), setzt auf Privateigentum als hohes Gut.

    Harte Währung Milei drehte die konservative Wirtschaftssicht in die Extremnis. Der Libertäre nennt sich "Anarchokapitalist", will die Zentralbank abschaffen, den Peso durch den US-Dollar ersetzen. Argentinien (46 Millionen Einwohner) hat 140 Prozent Inflation (die dritthöchste der Welt), im April 2020 zahlte man für einen Dollar 80 Pesos, jetzt sind es 1.000 Pesos. Und: Das Land hat 44 Milliarden US-Dollar Schulden beim Internationalen Währungsfonds.

    Scheitern droht Der künftige Präsident will nun die Steuern massiv senken, die Industrie privatisieren, ein Gutscheinsystem für die Bildung schaffen, die Zahl der Ministerien von 18 auf acht reduzieren. Mehrheit im Parlament hat er dafür keine.

    Fan von Trump Dafür bejubeln ihn Rechte weltweit. Trump gratulierte noch am Montag, Milei bezeichnete sein Vorbild als "einen der besten Präsidenten der USA". Seine Anhänger hatten im Wahlkampf Mützen mit der Aufschrift "Make Argentina Great Again" getragen. "Argentinien steht vor Wohlstand", schrieb Twitter-Raketen-Sprengkopf Elon Musk.

    Volksabstimmung über Abtreibung Milei setzt auf ein stramm-rechtes Programm mit eingesprenkelten Ausnahmen. Abtreibung (erst seit 2020 legal) nennt er Mord, er will ein Referendum darüber abhalten. Sexualkunde an den Schulen lehnt er ab („marxistische Verschwörung gegen die Familie“), den Waffenbesitz möchte er liberalisieren. Aber er kann sich offene Einwanderung, Drogen-Legalisierung, gleichgeschlechtliche Ehen, mehr Transgenderrechte vorstellen, wenn es den Staat nichts kostet.

    Als Kind misshandelt Der Sohn eines Transportunternehmers und einer Hausfrau erlebte eine zerrüttete Kindheit, in einer nicht autorisierten Biographie ist von Misshandlungen die Rede, von Mobbing in der Schule, er spricht nicht darüber. Als Jugendlicher spielte Milei in der Band "Everest" Hits der "Rolling Stones" nach, war Torhüter in einem Fußballklub. Engen Kontakt in der Familie hat er nur mehr zu seiner Schwester Karina, sie managte seinen Wahlkampf, er nennt sie "Chefin". Für ein Date habe er keine Zeit, sagte er, begann dann doch eine Beziehung zur Schauspielerin Fátima Flórez.

    Die Welt hat nun einen politischen-Schausteller mehr.

    cnn
    Akt.
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