"Heute"-Kommentar
Warum Gewessler die Grünen in eine Krise stürzte
Ehe noch jemand das erste Glas erhoben hat, steht der EU-Wahlkampf der Grünen vor einem Scherbenhaufen. Hintergründe einer Blamage.
Beredsames Schweigen Das Drehbuch stand, die Hauptdarstellerin war schon gecastet, aber wie so oft hielt sich das Leben nicht an den geplanten Film. Vor gut sechs Monaten hatte die Bundesspitze der Grünen ihrer Klimaministerin ein Angebot gemacht. Sie solle doch Spitzenkandidatin bei der EU-Wahl 2024 werden. Leonore Gewessler sagte weder zu noch ab. Dieses Schweigen wurde unterschiedlich interpretiert und genau das ist der Grund für die Peinlichkeit, die nun passierte.
Gesprächsbedarf "Setz ma uns z’samm!" Unter diesem Motto ist derzeit der Grüne Parlamentsklub in Österreich unterwegs, um mit geneigtem Publikum ins Gespräch zu kommen. Aufs hausinterne Publikum wurde zuletzt offenbar vergessen. Fünfmal setzte man sich schon z’samm. In Leoben debattierten Klubobfrau Sigi Maurer und ein paar weitere Vertreterinnen aus Bund und Land Mittwochabend über Klima, Teuerung und Krise im Nahen Osten. Die Krise in der eigenen Partei war da schon voll ausgebrochen.
Hoppala Das Durcheinander war auch an der Aussendung zur Veranstaltung ablesbar. Sie wurde am Donnerstag um 9.59 Uhr verschickt, besprach den Termin von Mittwochabend, der allerdings laut Schreiben erst am Donnerstagabend stattfinden sollte. Etwas viel der Vision.
Keiner(r) will Am 16. Dezember hätten die Grünen in Graz die Liste ihrer Kandidatinnen und Kandidaten fixieren sollen. Die Einladungen an rund 300 Personen waren verschickt, am Mittwoch wurde dann die Notbremse gezogen. Die Veranstaltung wird auf den 24. Februar verschoben, recht knapp vor dem Wahltermin am 9. Juni. Vor allem, wenn man einen Kandidaten oder eine Kandidatin ins Rennen schicken will, die über noch bescheidene Bekanntheit verfügt. Das Problem stellt sich momentan aber sowieso nicht, denn die Grünen haben schlichtweg niemanden.
Hektische Telefonate
Kein Plan B Das Dilemma bahnte sich am vergangenen Wochenende an. Da traf Leonore Gewessler ihre Entscheidung. Sie informierte die Parteispitze darüber, dass sie nicht bei der EU-Wahl als Spitzenkandidatin antreten möchte. Die Grünen fielen aus allen Wolken. Damit hatte niemand gerechnet. Seltsam, das Schweigen war offenbar als Zustimmung interpretiert worden. Es folgten hektische Telefonate zwischen dem Bundesvorstand der Grünen, er besteht aus 11 Personen, fast alle Parteigranden sind darin vertreten, Werner Kogler, Sigi Maurer, Leonore Gewessler, nur Alma Zadić fehlt.
Brisantes Mail Der Bundeskongress ist das höchste Organ der Partei. Alle Nationalräte, Bundesräte, EU-Abgeordneten, Mitglieder der Bundesregierung, des Bundesvorstandes, der Bildungsakademie, Delegierte sämtlicher Landesorganisationen, ethnischer Minderheiten sind darin vertreten. Alles in allem rund 300 Personen bekamen Mittwoch am Nachmittag ein E-Mail der Bundespartei. Darin wird die Verschiebung des Bundeskongresses verkündet.
Kongress wäre jetzt wichtig
Unglaubwürdig Die Begründung dafür ist hanebüchen und inzwischen auch vielen in der Partei peinlich. Die Verlegung wurde mit den "dramatischen internationalen Ereignissen der vergangenen Wochen" erklärt. Der Wahlkampf solle nicht "in einer besonders aufgewühlten Stimmung künstlich in die Länge gezogen werden". Warum die tatsächlich dramatische Weltlage einen Grünen Bundeskongress verunmöglichen sollte, blieb schleierhaft. Wäre es nicht im Gegenteil ein guter Zeitpunkt gewesen, Flagge zu zeigen und das durchaus wörtlich?
"Kein Kandidat" Tatsächlich wird auf Zeit gespielt. Denn es gibt keinen Plan B, wie die Grünen gestern hinter den Kulissen eingestehen mussten. Schlimmer noch: Am Donnerstag sagte auch noch Michael Reimon ab. Er sei, schrieb er auf Facebook "unter den neuen strategischen Vorgaben kein geeigneter Kandidat mehr".
Herber Verlust Reimon ist ein grünes Urgestein, saß von 2014 bis 2019 im EU-Parlament, ist derzeit Nationalrat und als scharfzüngiger Redner bekannt, vor allem Richtung FPÖ. Er sollte Platz 2 der EU-Liste erhalten, nun scheidet er ganz aus der Politik aus. Er hatte schon vor einiger Zeit verkündet, nicht mehr für den Nationalrat kandidieren zu wollen.
Krise ohne Not Und nun? Schütteln viele in der Partei den Kopf über die Selbstbeschädigung, die auch kein gutes Licht auf den Wahlkampf zur Nationalratswahl 2024 wirft. Es wäre ein Leichtes gewesen, den Bundeskongress etwa vor einem Monat abzusagen, das wäre vor allem geräuschlos vor sich gegangen. Nun richtet man selbstverschuldet alle Scheinwerfer auf sich.
Alles von vorne Wer könnten antreten? Von Lena Schilling ist die Rede, Klima-Aktivistin, Kolumnistin bei der "Kronen Zeitung", sie führte den Protest gegen den Lobautunnel an. Eine echte Verankerung in der Partei hat sie nicht. Also Alma Zadić? Die Justizminister scheint wenig Lust zu verspüren, nach Brüssel zu wechseln. Die Suche nach einer Kandidatin oder nach einem Kandidaten beginnt von vorn.