"Heute"-Kommentar
Antisemitismus: Reichen gute Worte & Handy-Teelichter?
"Bring them home": Donnerstagabend kamen Tausende Menschen auf den Wiener Heldenplatz. Das ist ehrenwert, aber jetzt müssen Taten folgen.
TikTok statt TV Am Allerheiligentag hielt der deutsche Vizekanzler Robert Habeck eine bemerkenswerte Rede, mutmaßlich sogar eine historische. Nicht im Fernsehen, sondern in den sozialen Medien. Auf Deutsch, mit Untertiteln in Englisch, Hebräisch und Arabisch, und das wohl mit Absicht. YouTube, TikTok, Twitter & Co, das sind die neuen medialen Kriegsschauplätze der Welt. Sie emotionalisieren, mobilisieren, fanatisieren.
Mutiger Schritt Habeck redete 9.40 Minuten lang. Er trug eine dunkle Krawatte, einen dunklen Anzug, das passte gut zu seinen dunklen Worten. Der Wirtschaftsminister benannte Ross und Reiter und das in selten gewordener Klarheit. Er stellte sich an die Seite Israels, warnte vor dem wie Sodbrennen aufsteigenden Antisemitismus im Land, nicht nur bei Islamisten, Rechtsextremen, sondern auch "in Teilen der politischen Linken" und im zumindest internationalen Ast der Umweltbewegung "Fridays for Future". Ein mutiger Schritt für einen Spitzenpolitiker der Grünen.
"Wer hier lebt, lebt hier nach den Regeln dieses Landes", sagte er. Und: "Wer noch keinen Aufenthaltstitel hat, liefert einen Grund, abgeschoben zu werden".
Kraftvoll, aber beklemmend
220 Sessel als Mahnmal Am Donnerstagabend versammelten sich Tausende Menschen auf dem Wiener Heldenplatz, die Veranstalter sprechen von 20.000, die teilgenommen haben. Es war eine gleichermaßen kraftvolle wie beklemmende Veranstaltung. Neben der Bühne standen 220 Sessel, für jeden und jede von der Terrorgruppe Hamas Entführten einer. Verwandte der Verschleppten appellierten vom Rednerpult aus: "Tut alles, um sie nach Hause zu bringen".
Solidarität allein reicht nicht Erstaunlich, was Mitorganisator Daniel Landau und sein Umfeld in der kurzen Zeit wieder einmal auf die Beine gestellt haben, an einem Fenstertag, mitten in den Herbstferien, bei Regen und Wind. Nach dem Anschlag auf den jüdischen Friedhof in Wien, den zerstörten Fahnen, der Uni-Schmiererei, war es bitter nötig, dass Österreich ein Zeichen der Solidarität setzt gegenüber Israel, aber auch gegenüber dem jüdischen Leben im eigenen Land: So sind wir nicht.
Oder doch? Zumindest einige, aber wie viele und wer?
Ein Aktionsplan muss her
"Boykott Israel!" Als ich am Donnerstagabend am Stephansplatz vorbeikam, wurde gerade die nächste Palästinenser-Demo vorbereitet, nur ein paar hundert Meter vom Heldenplatz entfernt. Dort, wo die Angehörigen der Geiseln gerade Österreich und die Welt um Beistand baten. "Stoppt den Krieg" und "Für aktive Friedenspolitik durch Österreich", unter diesen Titeln war die Palästinenser-Kundgebung angemeldet und genehmigt. "Boykott Israel!", brüllte ein Mann in ein Megaphon, Fahnen wurden geschwenkt, alles mit Smartphones mitgefilmt für die nächste Erregungswelle in den ach so sozialen Medien.
Wer ist unser Habeck? Auch die Politik nahm teil am Heldenplatz, der Kanzler ließ zumindest ein paar Kerzen ins Fenster stellen. Aber eine Rede wie die von Habeck ist nicht in Sicht. Karl Nehammer hat in seiner außenpolitischen Positionierung zuletzt viel Rückgrat bewiesen, aber Orientierung für die Bevölkerung geben derzeit weder er noch der Bundespräsident, noch irgendjemand anderer aus der Spitzenpolitik. Denn die über allem stehende Frage lautet ja: Was tun wir jetzt?
Durchtauchen führt zu Ertrinken Der Antisemitismus geht nicht weg, wenn wir die Augen zumachen. Der Regen schwemmt ihn nicht davon, die Zeit heilt vielleicht Wunden, aber sie vollbringt keine Wunder. Was also machen wir?
Kein Wunderwuzzi Wir haben keinen Habeck. Der deutsche Vizekanzler ist keine neue politische Gottheit, im Alltagsgeschäft fehlerbehaftet, aber er hat eine Redebegabung und wohl auch jemand Klarsichtigen im Hintergrund, der die richtigen Worte zuvor auf Papier gebracht hat.
Ohne Scheuklappen Habeck hin oder her. Ich hätte jetzt gern einen Politiker in Österreich, der sich hinstellt und konkret sagt, was wir unternehmen. Was machen wir gegen Antisemitismus? Gegen den, der immer da war und gegen den, der ins Land gelassen wurde? Gegen Fake News in sozialen Netzwerken? Gegen die Aufwiegelung? Gegen Mord-Aufrufe auf Demos? Wie bringen wir das Thema unseren Kindern näher? Es braucht einen nationalen Aktionsplan, viele Ministerien und die Länder sind gefordert, die Regierungsspitze sowieso.
Neue Bewährungsprobe Am 9. November findet in Wien "Light of Hope" statt, das Gedenken an die Novemberpogrome. Ein Marsch von vor allem jungen Menschen durch die Innenstadt, vom Heldenplatz zum Ballhausplatz*. Spätestens dann wird sich die Frage erneut stellen: Was tun wir? Zumindest die Skizze einer Antwort sollte vorliegen.
* Route wurde korrigiert