Gesundheit
Akuter Mangel! Zu wenige Kassen-Kinderärzte
Im "Heute"-Talk spricht Experte Reinhold Kerbl von veralteten Kassen-Tarifen, einem Ping Pong der ministeriellen Zuständigkeit und dem Faktor Zeit.
In Wien leben derzeit knapp zwei Millionen Menschen, davon gemäß Statistik der Stadt Wien (Stand 1.1.2020) etwa 180.000 Kinder und Jugendliche (0-18 Jahre), also potenzielle Patienten von Kinderärzten. Bei derzeit 71 Kassen-Kinderärzten in Wien bedeutet das, dass jede Kassen-Kinderordination im Durchschnitt und gerundet 2.500 Kinder betreuen müsste. Elf Kinderarzt-Kassenstellen sind derzeit unbesetzt und eine Stelle in Ausschreibung. Eine düstere Prognose, die die Zahlen der Österreichischen Ärztekammer abgeben.
Selbst der untalentierteste Mathematiker erkennt, dass sich das nie und nimmer ausgehen kann. Wie kommt es zu einem solchen Ungleichgewicht zwischen Wahl- und Kassenärzten? "Heute" sprach dazu mit Dr. Reinhold Kerbl, Vorstand der Abteilung für Kinder und Jugendliche am Landeskrankenhaus Leoben und Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde.
Aufnahme-Stopp und Tarife aus 1994
"Es gibt nicht zu wenige Kinderärzte, sie sind nur an der falschen Stelle", sagt Kerbl. Das klassische Konzept einer pädiatrischen Praxis entspricht kaum mehr den Vorstellungen von Jungmedizinern. "Überbordende Bürokratie", "niedrige Verdienstmöglichkeiten" und "finanzielles Risiko" sind nur einige der Schlagworte die fallen, wenn sich ein pädiatrischer Jungmediziner nach den Erfahrungen im niedergelassenen Bereich erkundigt.
Dabei scheitert es nicht alleine am Geld. "Man kann davon leben, aber die Bedingungen sind mühsam", so Kerbl. So müssen Kassenärzte viele kleine Positionen leisten, um ein vernünftiges Honorar zu erzielen. Deshalb wird nicht nur die Lunge des Kindes abgehört, sondern noch ein Ultraschall und ein Blutbild gemacht - obwohl es vielleicht gar nicht nötig wäre. "Das scheuen die Kollegen, weil sie in erster Linie Patienten betreuen wollen und nicht Positionen sammeln", weiß der erfahrene Kinderarzt.
Daher liegt nach der Facharztausbildung oft der Weg in die Wahlarztpraxis nahe, da dort Honorare und Zeiteinteilung selbst bestimmt werden können. "Das Kassen-Finanzierungsmodell ist überholt, veraltet und viel zu kompliziert. Es braucht dringend eine Überarbeitung, um es wieder attraktiv zu machen - auch was die Tarife betrifft", sagt der ÖGKJ-Generalsekretär. Der Tarif für eine Mutter-Kind-Pass-Untersuchung wurde seit 1994 nicht mehr angepasst, sondern lediglich von Schilling in Euro umgerechnet. Dabei ist diese Untersuchung eine der wichtigsten Leistungen bei Kinderärzten und Gynäkologen.
Manche Kassenärzte haben bereits Aufnahme-Stopp, weil sie an den Grenzen ihrer Kapazitäten sind. Bei 70 bis 80 Patienten pro Tag bleibt für den Einzelnen nicht viel Zeit. Dabei ist gerade Zeit für Gespräche in der Medizin sehr wichtig. Am schlimmsten, sagt Kerbl, sei die Situation in Niederösterreich: "Dort kann ein Drittel der Kassenplätze nicht besetzt werden."
Das Karussell der Zuständigkeit
Bereits 2020 habe man laut Kerbl in einer Pressekonferenz auf den Missstand aufmerksam gemacht, aber die Pandemie hat alle anderen Probleme in den Schatten gestellt. Die Österreichische Gesundheitskasse fühlt sich demnach nicht zuständig, weil das Sache des Familienministeriums sei. Die Gelder kämen aus dem Familienlastenausgleichsfond, den das Familienministerium über hat. "Wir bemühen uns seit fast einem Jahr um einen Termin im Familienministerium, ohne eine Rückmeldung zu bekommen – auch auf mehrfache Anfrage kam bisher keine Antwort", beklagt Kerbl.
Das Familienministerium verweist auf das Gesundheitsministerium, weil zuständig für medizinische Leistungen. Die wiederum verweisen auf den Familienlastenausgleichsfond des Familienministeriums. So geht der Ball hin und her – ohne Ergebnis.
"Die Ärztekammer ist in diesem Fall auf unserer Seite, kann aber nichts machen, wenn die beiden Ministerien sich nicht zuständig fühlen, obwohl der Gesundheitsminister gut in der Ärztekammer verankert ist." Einen Termin bei Minister Mückstein hat es bereits gegeben. Aber auch er verwies wegen Finanzierung ans Familienministerium.
2-Klassen-Medizin
Wer es sich leisten kann, geht mit seinem Sohn oder Tochter zum Wahl- oder Privatarzt. Wer sich's nicht leisten kann und keinen Termin beim Kassenarzt bekommt, geht in die Kinderambulanz. "Im Prinzip sprechen wir hier - wie auch bei Erwachsenen - von einer 2-Klassen-Medizin", meint der Mediziner. Das Spital darf niemanden unversorgt abweisen. Zumindest muss vor Ort festgestellt werden, ob ein akuter Notfall vorliegt oder ob die Beschwerden auch bei einem niedergelassenen Arzt behandelt werden können.