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So macht Corona Österreichs Jugend psychisch fertig
Junge Menschen in Österreich werden derzeit vor besondere Herausforderungen gestellt – viele leiden unter psychischen Erkrankungen.
Die 17-jährige Schülerin Marie sorgt sich schon jetzt um ihre Matura im kommenden Jahr. Allerdings nicht aufgrund des Lernstoffs, sondern wegen unklarer Rahmenbedingungen. "Ich habe keine Ahnung, worauf ich mich einstellen kann. Niemand weiß, wie das nächste Schuljahr oder die Matura ablaufen werden", sagt sie. Ihr fehle jegliche Planungssicherheit: "Ich mache mir oft Sorgen um die Zukunft." Seit mehr als zwölf Monaten müssen sich Kinder und Jugendliche mit der Corona-Pandemie arrangieren. Die Maßnahmen sind wechselhaft: Mal sind die Schulen mit Schichtbetrieb geöffnet, dann gibt es wiederum nur Unterricht im Kinderzimmer via Internet.
Die Schülerinnen und Schüler lernen oft im Distanzunterricht vor dem Bildschirm, sehen ihre Freundinnen und Freunde kaum. So auch der 15-jährige Jonas. "Ich habe nur einen alten, langsamen Laptop", erklärt er im Gespräch. Für ein neues Gerät sei kein Geld vorhanden. Mit der veralteten Hardware erledige er seine Hausaufgaben und telefoniere abends via Skype mit seinen Freunden – gemeinsame Unternehmungen fallen seit dem Herbst aus. "Es hat ja nichts mehr offen", seufzt der Schüler. "Ich fühle mich oft einsam."
Selbstmordgedanken
Die negativen Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit von Österreichs Jugend ist empirisch belegt. Laut einer Studie der Donau-Universität Krems und der Medizinischen Universität Wien von Anfang März 2021 leiden 55 Prozent der Schülerinnen und Schüler ab 14 Jahren unter Depressionen. Die Hälfte der Befragten gab an, Ängste zu haben, ein Viertel sprach von Schlafstörungen und alarmierende 16 Prozent äußerten suizidale Gedanken.
Bereits Ende Jänner hatte Paul Plener, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien sowie Mitautor der Studie, im ORF-Radio von einer "gewissen Triage" aufgrund des großen Andrangs auf seiner Abteilung gesprochen. Mit den Schulöffnungen habe sich die Lage etwas entspannt, erklärt er nun. "Wir arbeiten weiterhin mit Vollbelegung der recht wenigen Betten. Seit etwa drei Wochen nehmen wir aber wahr, dass der Aufnahmedruck von sehr schweren Fällen wieder auf ein normales Niveau sinkt", sagt Plener.
Denn die Schule sei nicht nur ein Ort der Bildung. Plener: "Hier findet auch sozialer Austausch statt – und zwar nicht nur mit Gleichaltrigen. Für viele Jugendliche sind Lehrerinnen und Lehrer wichtige Bezugspersonen mit Vorbildfunktion." Laut dem Experten behandle man am AKH derzeit viele junge Menschen mit Essstörungen, Depressionen und Selbstmordgedanken. In den vergangenen Monaten sei es außerdem zu "relativ vielen" Suizidversuchen gekommen.
Anzeichen erkennen
Doch warum trifft die Corona-Pandemie die Psyche junger Menschen dermaßen stark? "Jugendliche befinden sich in einer Phase der Autonomieentwicklung und Identitätsfindung. Dafür sind soziale Kontakte mit Gleichaltrigen besonders wichtig", weiß die Klinische Psychologin Julia Neukam, die in Wien mit Jugendlichen arbeitet. "In Folge des Social-Distancings können bereits bestehende depressive Tendenzen, Essstörungen und Ängste verstärkt werden."
Die Anzeichen einer belasteten Psyche rechtzeitig zu erkennen, ist wichtig. Dabei gibt es aber ein Problem. "Depressionen äußern sich bei Jugendlichen teilweise anders als bei Erwachsenen. Zudem sprechen sie nicht immer mit den Eltern über ihre Probleme", sagt Neukam. So könne eine ausgeprägte Traurigkeit zwar auftreten, müsse das aber nicht. Andere mögliche Anzeichen seien Konzentrationsmangel, Schlafstörungen, wenig Selbstvertrauen, Verlust der Freude an Hobbys, ausgeprägter sozialer Rückzug und Antriebslosigkeit. Letztere könne von Eltern auch als Faulheit interpretiert werden. Laut Neukam sollten Eltern, die mögliche Anzeichen auf eine psychische Erkrankung bei ihrem Kind entdecken, den Kontakt zu ihm suchen, nach Wesensveränderungen Ausschau halten und im Bedarfsfall Expertinnen und Experten aufsuchen.
Perspektive gefragt
Damit eine professionelle Behandlung gar nicht erst nötig wird, empfiehlt Plener "stabilisierende Maßnahmen". Ganz wesentlich sei ein fester Tag-Nacht-Rhythmus. "Morgens jeden Tag zur gleichen Zeit aufstehen und rausgehen – egal ob in die Schule oder einmal um den Häuserblock – und abends zur selben Zeit schlafen gehen", sagt der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie. "Denn gerade Jugendliche laufen in Gefahr, schnell einen verschobenen Tag-Nacht-Rhythmus zu entwickeln. Körperliche Betätigung ist ebenfalls essenziell, um psychisch gesund zu bleiben."
Kinder und Jugendliche in Österreich, so wie Marie und Jonas, brauchen eine Perspektive, wie es weitergehen soll. "Es ist wichtig, dass es eine Planbarkeit gibt", sagt Plener. "Das heißt: Die Versprechen der Politik, etwa wann das Distance-Learning endet, sollen eingehalten werden."
Neukam könnte sich die Bereitstellung von Angeboten vorstellen, im Rahmen derer Heranwachsende soziale Kontakte wahrnehmen können – mit einem unkomplizierten Corona-Testangebot. „Die Jugendlichen leiden sehr unter der Isolation und Einsamkeit. Es fehlen Rückzugs- und Freiräume, um möglichen Konflikten in der Familie entkommen zu können", sagt die Psychologin.
Sollte es aufgrund des Infektionsgeschehens wieder zu flächendeckendem Distance-Learning kommen, plädiert Plener zudem für verpflichtendes Home-Office sowie weitere Sonderbetreuungszeiten für Eltern: "Damit man nicht in die Situation kommt, dass Home-Schooling und Home-Office gemeinsam stattfinden."
Suizidgedanken? Hol dir Hilfe, es gibt sie.
Wenn du unter Selbstmord-Gedanken, oder Depressionen leidest, dann kontaktiere die Telefonseelsorge unter der Nummer 142, täglich 0-24 Uhr.