Ukraine

ORF-Star in der Ukraine – die knallharte Kriegs-Analyse

Ein halbes Jahr Krieg in der Ukraine. ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz hat den Horror hautnah miterlebt. Jetzt schildert er Bedenkliches.

Roman Palman
Christian Wehrschütz bei einer TV-Schaltung aus der Ukraine zu Kriegsbeginn.
Christian Wehrschütz bei einer TV-Schaltung aus der Ukraine zu Kriegsbeginn.
Screenshot ORF

Genau sechs Monate tobt nun schon der Krieg in der Ukraine. Heute, am 24. August, würde das Land eigentlich seinen Unabhängigkeitstag feiern, doch große Festlichkeiten sind aus Angst vor verstärkten russischen Angriffen untersagt. Einer, der seit Anbeginn der Invasion fast durchgehend, aus der kriegsgebeutelten Nation berichtet, ist ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz.

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Im Ö1 "Morgenjournal" schildert er am Mittwoch nicht nur, wie er den Kriegsbeginn persönlich erlebt hat, sondern gibt auch seine nüchtern-kritische Einschätzung zur wenig rosigen Lage der Ukraine in diesem Konflikt.

Wusste, dass es zu Krieg kommen wird

"Heute vor sechs Monaten waren wir noch in Mariupol, denn wir waren eigentlich seit Mitte Februar ziemlich sicher, dass es zu diesem großen Krieg kommen wird und wir wollten all die neuralgischen Punkte noch einmal abfilmen und besuchen. Daher waren wir in Mariupol. Wir wollten noch Richtung Krim fahren, doch Putin ist uns zuvorgekommen", erinnert sich der kriegserfahrene Reporter an die ersten Stunden.

Noch aus Mariupol habe er die ersten Live-Einstiege für das Radio gemacht. "Wir haben die Hotelrechnung bezahlt, sind rausgefahren und haben bereits die ersten Kriegsfolgen am Flughafen gesehen, wo die Radaranlagen zerstört waren. Wir sind dann nach Kiew gefahren, in der Erkenntnis, dass Mariupol zum Kessel wird und sich der Krieg in Kiew vorläufig entscheiden wird."

Kiews dramatische Veränderung

Die Hauptstadt habe sich in den letzten sechs Monaten gleich drei Mal drastisch verändert. Bei seiner Ankunft Ende Februar sei Kiew eine Geisterstadt gewesen. Von den einst 3,6 Millionen Einwohnern seien nur noch rund eine Million zurückgeblieben. "Da war wirklich alles weg, was davonlaufen konnte." Nur wenige Geschäfte hätten noch geöffnet gehabt, und die seien nach Hamsterkäufen fast leergefegt gewesen. "Das habe ich in 30 Jahren nicht erlebt. Sie können hier herumfahren wie in einer Geisterstadt", schilderte der ORF-Korrespondent damals.

Zwischendurch musste selbst Wehrschütz aus Sorge um seine Sicherheit aus der Stadt flüchten – "Heute" berichtete. Er kehrte aber als einer der wenigen bald wieder zurück. Bis Anfang April blieb Kiew wie ausgestorben, doch schnell nach dem unfreiwilligen Abzug der russischen Truppen sei die Stadt wieder aufgeblüht.

"Kiew konnte aufatmen. Es hat sehr schnell eine Rückkehrbewegung gegeben", so Wehrschütz weiter. Aktuell werde aufgrund von Handydaten vor Ort geschätzt, dass sich wieder knapp 3 Millionen Menschen, darunter etwa 200.000 Binnenvertriebene, in der Stadt aufhalten.

In den letzten Tagen habe sich die Stadt wegen der Warnungen vor möglichen massiven russischen Angriffen rund um den Unabhängigkeitstag wieder etwas entleert, doch sollten diese ausbleiben, würden die Menschen vermutlich schnell wieder zurückkehren. "Wenn Sie in Kiew auf der Flaniermeile sind, ist es manchmal schwer zu erkennen, dass diese Stadt und dieses Land im Krieg sind."

Propaganda auf beiden Seiten

Den Propaganda-Krieg, der sowohl von Russen als auch Ukrainern mit allen Mitteln geführt wird, sieht der gebürtige Grazer extrem kritisch: "Es ist unstrittig, dass der Aggressor die Russen sind. Die haben am 24. Februar angegriffen, das ist ganz klar. Aber unter dieser Ebene, ist klar, dass etwa beim Atomkraftwerk Saporischschja – aus der Bedrohung, dem Verhalten der anderen Kriegspartei – beide Seiten versuchen, ihr Kapital daraus zu schlagen. Das wird für den jeweiligen Hausgebrauch bzw. das jeweilige internationale Auditorium gemacht", analysiert Wehrschütz.

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    Blick auf das Atomkraftwerk Saporischschja in der Ukraine.
    Blick auf das Atomkraftwerk Saporischschja in der Ukraine.
    ED JONES / AFP / picturedesk.com

    Die Ukraine nutze etwa das AKW, "um den Krieg irgendwie im Bewusstsein des Westens halten". Denn die große Sorge im Land sei, dass man sich innerhalb der westlichen Verbündeten "an diesen Krieg gewöhnt und sagt: 'Irgendwie müsst ihr euch mit den Russen arrangieren', und macht einen Friedensvertrag, oder einen Waffenstillstand und dann vergisst man den Krieg wieder so wie den Krieg in der Ostukraine."

    Jedem, der wissen wolle, wie Kriegspropaganda läuft, empfiehlt der routinierte Reporter, Arthur Ponsonby über "Lügen in Kriegszeiten" aus dem Jahr 1928 über den Ersten Weltkrieg zu lesen: "'Die Wahrheit ist das erste Opfer des Krieges', stammt von ihm."

    "Das ist das Bedenkliche in diesem Krieg"

    Was er jedenfalls nicht beobachten könne, ist die von den Ukrainern erhoffte Trendwende: "Was nicht passiert ist und was immer herbeigeredet wird, bisher jedenfalls, ist der Zusammenbruch der russischen Streitkräfte. Und wenn sie nur jeden Tag oder pro Woche ein paar Meter vorrücken, sie rücken halt nach wie vor vor."

    Die Ukraine hätte trotz westlicher Waffen es bisher nicht geschafft, diesen Vormarsch dauerhaft zu stoppen oder gar wieder mit einer Gegenoffensive zurückzuwerfen. "Und das ist eigentlich das Bedenkliche in diesem Abnützungskrieg, wo man sich nicht sicher sein kann, wie dauert es noch oder gibt es überhaupt noch eine Chance auf Dauer, die von Russland besetzten Territorien zu befreien."

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