Ukraine
Kriegsreporter Wehrschütz sieht Wende in der Ukraine
Lange hat die Ukraine sich gegen Russland behauptet, nun könnte es aber einen Wendepunkt im Krieg geben, so ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz.
Tag 90 des Ukraine-Kriegs – dass die Ukraine so lange durchhielt und teils die russischen Truppen sogar zurückdrängen konnte, hätte anfangs wohl kaum jemand geglaubt. Doch nun könnte sich das Blatt für die Ukraine wenden, wie der ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz aus dem Kriegsgebiet berichtet. Russland habe nach dem Scheitern der Blitzkrieg-Strategie die ersten Tage und Wochen seine Strategie geändert, so Wehrschütz. Man hatte die Truppen aus dem Norden zurückgezogen, sie aufgefrischt, sie in den Osten und Süden verlegt.
"Jetzt greift man dort mit massiver Artillerie in mehreren Wellen an. Das zeigt Wirkung, es sind wichtige Ortschaften gefallen", so der Reporter im Ö1-"Morgenjournal". In Wahrheit habe die Ukraine in der Region Lugansk bereits die Kontrolle verloren, 97 Prozent des Territoriums seien in der Hand der Russen und nur mehr an den Außenrändern gebe es ukrainische Einheiten, denen nun aber die Einkesselung drohe. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selnski hatte deshalb von einem "totalen Krieg" im Osten gesprochen.
„"Es ist auch so, dass die ukrainische Seite vielleicht auch in Verkennung ihrer Anfangserfolge eine Propagandalinie gefahren ist, die in der eigenen Bevölkerung unrealistische Erwartungen geweckt hat vom Sieg"“
"Der ukrainische Präsident ist leider auch für die Maßlosigkeit seiner Wortwahl bekannt", so Wehrschütz. Mit dem Begriff aus dem Wortschatz des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels "sollte man sehr vorsichtig sein", die beiden Dimensionen seien "nach wie vor nicht vergleichbar". Aber natürlich habe man massive Angriffe und eine massive Belastung der Zivilbevölkerung und eine Zermürbungstaktik durch die russischen Truppen, so Wehrschütz. Es sei schwer zu sagen, ob der Durchhaltewille der Ukrainer an seine Grenzen stoße.
Trotz aller Waffenlieferungen sei es aber so, dass der Fall von Städten wie Mariupol und die massiven Angriffe im Osten die Moral der ukrainischen Truppen sinken lasse, so Wehrschütz. "Es ist auch so, dass die ukrainische Seite vielleicht auch in Verkennung ihrer Anfangserfolge eine Propagandalinie gefahren ist, die in der eigenen Bevölkerung unrealistische Erwartungen geweckt hat vom Sieg", so der Reporter. Die ukrainischen Truppen und die Bevölkerung hätten "wahnsinnig viel geleistet" und nun zahle man "den Preis für die Siegesmeldungen und Siegeserwartungen, die man geweckt hat".
Auch im Westen der Ukraine und in Kiew müsse man weiter mit Angriffen der russischen Truppen rechnen, so Wehrschütz, dort seien Zivilisten aber "so brutal es klingt" nur Kollateralschäden von nicht genauen oder fehlgeleiteten Waffen. Ziel sei die Zerstörung der Nachschublinien, so Wehrschütz, deswegen sei auch der Westen deutlich betroffen.
Man sehe indes in russischen Quellen und im Internet, dass es von russischer Seite weiterhin eine große Unzufriedenheit mit der militärischen Führung gebe und Russland ebenfalls unter massiven Verlusten leide. Man habe solche Verluste der russischen Truppen auch weiterhin, alleine beim Versuch, einen Fluss zu überqueren, sei bei einer Brückensprengung auf einen Schlag ein Trupp mit bis zu Tausenden Kämpfern ausradiert worden. Ganz offensichtlich habe Russland aber größere Personalreserven als die Ukraine, so Wehrschütz.