Ukraine

"In Fleischwolf geraten" – Bachmut-Soldat schildert all

Ann Guenter ist Journalistin. In einer Reportage zeichnet sie ein aktuelles Bild der ukrainischen Streitkräfte im umkämpften Bachmut und deren Moral. 

20 Minuten
Gerade von der Bachmut-Front zurück: Ukrainische Spezialeinheiten.
Gerade von der Bachmut-Front zurück: Ukrainische Spezialeinheiten.
20 Minuten/Ann Guenter

Für das "Heute"-Partnerportal "20 Minuten" berichtet Journalistin Ann Guenter aus dem Donbas in der Ukraine. In einer aktuellen Reportage schildert sie ihre Eindrücke über die Lage in Bachmut. Auch die ukrainischen Soldaten sind mit ihrer Militärführung nicht hundertprozentig zufrieden.

Stopp an einer Tankstelle etwa fünf Kilometer nordwestlich von der Bachmut-Front entfernt. Wir tanken, ein gepanzertes Militärfahrzeug hält neben uns, vier Soldaten steigen aus. Sie gehören einer ukrainischen Spezialeinheit an, das ist an ihren Abzeichen zu erkennen und vielleicht auch daran, dass sie auffällig viele Magazine auf sich tragen.

Sie wirken abgemagert, haben hagere Gesichter und einen unglaublich müden Ausdruck in den Augen. Sie dürften gerade von der Front kommen. Reden wollen und können sie nicht mit uns. Trotzdem die Frage: Hätten die ukrainischen Truppen sich nicht schon früher aus der umkämpften Kleinstadt im Osten zurückziehen sollen? Ihren Mienen ist abzulesen, dass sie eben das denken.

Gerade von der Bachmut-Front zurück: Ukrainische Spezialeinheiten.
Gerade von der Bachmut-Front zurück: Ukrainische Spezialeinheiten.
20 Minuten/Ann Guenter

Selbst Grenzwächter kämpfen in Bachmut

Die russischen Soldaten, allen voran die Söldner der russischen Wagner-Gruppe, setzten die ukrainischen Truppen im Ostteil Bachmuts unter Druck. Sie sind bis zum Bachmutka-Fluss vorgerückt, bedrängen die Ukrainer von drei Seiten. Hört man dagegen Yvevhen Rozehniuk (43) zu, ist von der prekären Lage der ukrainischen Streitkräfte wenig zu bemerken. Rozehniuk ist vom ukrainischen Grenzschutz und offensichtlich ein Optimist.

"Es gibt all diese Gerüchte, dass wir uns aus Bachmut zurückziehen. Unsere zwei Einheiten zumindest halten die Positionen. Und wir halten sie, bis wir einen anderen Befehl erhalten." Dass selbst ukrainische Grenzwächter an der Bachmut-Front kämpfen, erklärt der 43-Jährige folgendermaßen: "Als russische Truppen unsere Grenze stürmten, waren wir die Ersten, die ihnen begegneten, und die Ersten, die wegen ihnen starben. Wir beschlossen, uns zu rächen, und meldeten uns für den Kampf."

Yvevhen Rozehniuk (43): "Die Wagner-Leute kämpfen in drei Wellen."
Yvevhen Rozehniuk (43): "Die Wagner-Leute kämpfen in drei Wellen."
20 Minuten/ Ann Guenter

Drei Wagner-Wellen: Häftlinge, Zivilisten, Profis

Rozehniuk macht kein Geheimnis daraus: Die Ukrainer seien nach den monatelangen Gefechten um die Kleinstadt im Osten ausgelaugt. Das habe vor allem mit der Taktik der russischen Wagner-Söldnertruppen zu tun. "Sie kämpfen in drei Wellen: Erst schicken sie die aus den Gefängnissen rekrutierten Männer, die unsere Feuerstellungen ausfindig machen. Ist das passiert, rücken die mobilisierten Soldaten nach. Und dann übernehmen die Kader", also jene professionellen Söldner, die in Syrien oder Libyen gekämpft haben.

Dabei wiesen die Abzeichen die Hierarchie unter den Wagner-Leuten aus: "Die Profis tragen ein Abzeichen mit einem V, die mobilisierten Zivilisten eines mit A und die aus den Gefängnissen rekrutierten Häftlinge tragen einen Batch mit einem K."

"Was in Bachmut geschah, überstieg ihre Erfahrung"

Gefangen genommene Wagner-Söldner berichteten ihnen immer wieder dasselbe: "Ihre verletzten Kämpfer werden liegen gelassen oder erschossen. Denn es braucht im Kampf jeweils mindestens zwei Männer, einen Mediziner und einen Soldaten, die sich um einen Verletzten kümmern – offensichtlich zu viel Aufwand für Wagner", so Rozehniuk verächtlich.

Auch Roman Vodyantiskii (34), ausgebildeter Fallschirmjäger der 95. Brigade, hat über zwei Monate ohne Unterbrechung in Bachmut gekämpft. !Schon am ersten Tag wurde uns klar, dass hier etwas nicht stimmt. Einige von uns verweigerten die Teilnahme – was in Bachmut geschah, überstieg ihre Erfahrung.!

Roman Vodyantiskii (34): "Meine militärische Spezialausbildung spielte unter diesen Bedingungen keine Rolle."
Roman Vodyantiskii (34): "Meine militärische Spezialausbildung spielte unter diesen Bedingungen keine Rolle."
20 Minuten/ Ann Guenter

"Überlastung, Dehydrierung, konstante Adrenalinstöße"

Er schildert den konstanten Beschuss durch Helikopter, Artillerie, Raketen und Panzer. "Jeder Meter in diesem Gebiet war schwierig." Die Gefechte hätten mitunter bis zu sechs Stunden am Stück gedauert. In den ersten zehn Tagen seien von 43 Angehörigen der Aufklärungseinheit 18 Männer gestorben. Fünf seiner Kollegen seien auf einen Schlag verwundet worden. "Vier konnten wir herausholen, der fünfte wurde getötet, als die Russen uns verfolgten."

Während seiner Zeit in Bachmut hätten seine Beine wegen Krämpfen zweimal schlapp gemacht, zweimal sei sein Herz fast stehen geblieben – "alles wegen Überlastung, Dehydrierung und der konstanten Adrenalinstöße in der ganzen Hölle um mich herum. Meine militärische Spezialausbildung spielte unter diesen Bedingungen keine große Rolle."

Entführungen in ukrainischen Uniformen

Vor Bachmut habe er sich vorgestellt, dass er "in einem coolen Film" mitspiele, dass er ein Superheld sei. "Doch in den Filmen sterben sie nicht", so Vodyantiskii. Es sei schlicht unmöglich zu erfassen, was sich an dieser Front abspiele. "In Bachmut ist mir klar geworden, dass ich in einen Fleischwolf geraten bin."

Auch Vodyantiskii gibt einen Einblick in die Taktiken des Gegners: "Der Feind setzt seit August subversive Truppen in Bachmut ein: Sie tarnen sich mit ukrainischen Uniformen und entführen unsere Soldaten von Beobachtungsposten."

1/10
Gehe zur Galerie
    Die ost-ukrainische Stadt Bachmut ist seit Monaten heftig umkämpft – Russland hat bereits mehrfach die vollständige Einnahme der Stadt verkündet, doch die ukrainischen Streitkräfte halten bisweilen Stand. 
    Die ost-ukrainische Stadt Bachmut ist seit Monaten heftig umkämpft – Russland hat bereits mehrfach die vollständige Einnahme der Stadt verkündet, doch die ukrainischen Streitkräfte halten bisweilen Stand.
    REUTERS

    "Ich will für mein Land leben, nicht sterben"

    So komme es mitunter zu haarsträubenden Situationen: "Wir erhielten den Befehl, uns mit einer anderen Gruppe zu treffen. Anhand verschlüsselter Passwörter traten wir mit den Männern in Kontakt und gingen mit ihnen gemeinsam zur Inspektion. Gerade noch rechtzeitig bemerkten wir ihren Chevron mit der russischen Trikolore. Der Feind hatte unsere Männer ausgeschaltet, gab sich als ukrainischer Trupp aus."

    Gegenüber der ukrainischen Militärführung gibt sich der 34-Jährige äußerst kritisch. Er macht schlechte Kommunikation aus und hinterfragt Kompetenzen: "Panik unter uns Soldaten entsteht in Bachmut nicht wegen des konstanten Beschusses, sondern wegen der Erkenntnis, dass man uns falsche Aufgaben gibt."

    Mittlerweile hat sich Vodyantiskii beurlauben lassen. Er weiß, dass er bald wieder in den Kampf ziehen muss. "Ich habe keine andere Wahl. Jetzt wird ukrainische Geschichte geschrieben und wir alle müssen an diesem Moment teilnehmen." Der 34-Jährige schweigt lange. Dann sagt er: "Ich will für mein Land leben, nicht sterben."

    1/66
    Gehe zur Galerie
      <strong>23.12.2024: "Drecks.." und "faule Blade" – Aufregung um ORF3-Chef.</strong> ORF3-Chef Peter Schöber wird etwa Rassismus, Homophobie und Mobbing vorgeworfen. <a data-li-document-ref="120079903" href="https://www.heute.at/s/dreckau-und-faule-blade-aufregung-um-orf3-chef-120079903">Die ORF-Personalabteilung prüft nun rechtliche Konsequenzen &gt;&gt;&gt;</a>
      23.12.2024: "Drecks.." und "faule Blade" – Aufregung um ORF3-Chef. ORF3-Chef Peter Schöber wird etwa Rassismus, Homophobie und Mobbing vorgeworfen. Die ORF-Personalabteilung prüft nun rechtliche Konsequenzen >>>
      Ferrigato Roland / Verlagsgruppe News / picturedesk.com
      An der Unterhaltung teilnehmen