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Greift Spritze Immunsystem an? Experte warnt eindringli
Die Covid-19-Impfung hemmt laut Infektiologen Pietro Vernazza das angeborene Immunsystem. Dies zeigten drei Studien. Andere Experten sehen das anders.
Gut 56 Prozent der Menschen in Österreich sind mindestens dreimal gegen Covid-19 geimpft. Ein Großteil hat einen Impfstoff auf mRNA-Basis erhalten. Für sie hat der ehemalige Chefarzt der Infektiologie vom Kantonsspital St. Gallen – zumindest aus seiner Sicht – schlechte Nachrichten. Andere Fachleute sehen hingegen keinen Grund zur Sorge.
Welche schlechten Nachrichten hat Pietro Vernazza?
Laut ihm hemmt die mRNA-Impfung das angeborene Immunsystem. So schreibt er es in einem Blog-Beitrag, der auch auf Insideparadeplatz.ch erschienen ist. Nach der mRNA-Impfung könne das angeborene Immunsystem nicht mehr so gut auf Erreger wie Pilze, Bakterien und Viren reagieren.
Seine Schlussfolgerung stützt er auf drei verschiedene Studien aus den Jahren 2021, 2021 (diese wurde 2023 upgedatet) und 2023. Es gebe "mehr und mehr Evidenz", heißt es da. Es sei "nicht übersehbar". Es sei interessant, "dass unsere Impfforschung und die Zulassungsbehörden diese Phänomene, welche das angeborene Immunsystem betreffen, sträflich vernachlässigen". Am Ende des Artikels macht er noch einmal auf seinen Aufruf "Stoppt den Booster" von November 2022 aufmerksam.
Studien zeigen nicht, dass mRNA-Impfstoff das Immunsystem schwächt
Die Sorge Vernazzas teilt Emanuel Wyler, Molekularbiologe am Max Delbrück Center für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft in Berlin, nicht: "Die Studien zeigen nicht, dass das Immunsystem gehemmt wird." Es seien lediglich auf zellulärer, molekularer Ebene Unterschiede in der Reaktion von Immunzellen, die im Labor aus Blut vor und nach der Impfung gewonnen wurden, auf verschiedene Substanzen gemessen worden.
"Um zu zeigen, ob das Immunsystem gehemmt ist, müsste man schauen, ob die Leute kränker werden, wenn sie sich infizieren, oder ob sie sich öfter infizieren." Das hätten die Forschenden aber nicht untersucht: Bei allen drei Studien handele es sich um Experimente, die im Labor, nicht aber am Menschen durchgeführt worden seien. "Entsprechend sagen sie nichts darüber aus, ob und welche realen Auswirkungen das hat", so Wyler.
Die Schlussfolgerung Vernazzas hält der gebürtige Schweizer Wyler für unzulässig. Warum, erklärt er am Beispiel der jüngsten Studie: Sie zeige lediglich, dass in bestimmten Laborexperimenten und unter bestimmten Umständen nach der Covid-Impfung von Biontech/Pfizer bei Zellen aus dem Blut von Kindern unterschiedliche Zytokin-Antworten gemessen würden. Das sei nicht dasselbe wie die Hemmung des Immunsystems, so Wyler: "Vernazza macht daraus einfach das, was er damit zeigen will. Aber dass das Immunsystem gehemmt ist, sagt diese Studie gar nicht aus."
Krankheitswellen aus dem letzten Jahr stützen Vernazzas Behauptung nicht
"Zurzeit liegen keine epidemiologischen Daten vor, die auf klinische Effekte der Covid-19-Impfungen in direktem Zusammenhang mit der angeborenen Immunantwort hinweisen würden", teilt Swissmedic auf Anfrage von "20 Minuten" mit. Das heißt: Es gibt aus der realen Welt keine Daten oder Hinweise, die die Schlussfolgerung Vernazzas stützen würden. "Wenn die mRNA-Impfungen das Immunsystem klinisch relevant hemmen und daher anderweitigen viralen Infektionen, bakteriellen und Pilzinfektionen Vorschub leisten würden – wie aus den erwähnten Laborstudien postuliert –, hätte man bei den enormen weltweiten Erfahrungen definitiv etwas davon sehen müssen, was aber bisher nicht der Fall ist", so Swissmedic.
Auch die große Respiratorische-Synzytial-Virus-(RSV)-Welle, die im vergangenen Herbst viele Kinder krank gemacht und die Kinderspitäler an die Belastungsgrenze gebracht hat, tut das nicht. "Natürlich könnte man jetzt behaupten, dass das eine Folge der Impfungen sei", so Wyler. "Aber die Argumentation hinkt: Denn Kinder wurden in europäischen Ländern – und auch in der Schweiz – kaum geimpft."
Die in den letzten Jahren beobachtete generelle Zunahme an bakteriellen Infektionen – vor allem mit A-Streptokokken und Pneumokokken – tauge ebenfalls nicht als Beweis für die vermeintlich negativen Auswirkungen der mRNA-Impfungen auf das Immunsystem von Geimpften, so der Molekularbiologe: "Laut Studien, die mit Kontrollgruppen gearbeitet haben, ist die Anfälligkeit für diese Erreger im Gegenteil besonders nach einer Ansteckung mit Sars-CoV-2 erhöht." Die epidemiologischen Daten stützten also nicht die These, dass ein Großteil der Geimpften von den Impfungen ein geschwächtes Immunsystem habe, sagt Wyler. "Es ist eher so, dass die Zunahme der bakteriellen Infektionen mit den Ansteckungen mit Sars-CoV-2, aber auch Influenza, RSV und anderen Viren zusammenhängt."
Studien nicht über jeden Zweifel erhaben
Die von "20 Minuten" angefragten Fachleute kritisieren nicht nur Vernazzas Schlussfolgerungen, sondern auch die von ihm zitierten Studien: "Alle drei Publikationen berufen sich auf unkontrollierte Studien mit zudem kleinen Fallzahlen", teilt Swissmedic mit. Mindestens eine der Publikationen befinde sich auch immer noch im Preprint-Status (siehe Box) und sei noch nicht von unbeteiligten Forschenden gutgeheißen worden. "In einer der Studien wurde zudem ein inaktivierter Sars-CoV-2-Impfstoff – also kein mRNA-Impfstoff – untersucht. Diese Arbeit scheint daher für die spezifische Fragestellung bezüglich mRNA-Impfstoffen weniger relevant."
Was bedeutet Preprint?
Um neue Erkenntnisse unters Volk zu bringen, publizieren Forschende ihre Studien in Fachzeitschriften (Journals). Dafür arbeiten sie zunächst ein Manuskript aus, das sie der Fachzeitschrift vorlegen. Nimmt diese den Entwurf an, findet die Begutachtung, das sogenannte Peer-Review statt. Das heißt: In der Regel anonyme und unabhängige Fachkollegen begutachten die Arbeit, kritisieren und machen Anmerkungen. Dies dient der Qualitätssicherung. Dann wird die Arbeit an die Autoren zurückgesandt, welche sie überarbeiten. Dieses Vorgehen kann sich einige Male wiederholen. Abschließend wird die Arbeit im Journal publiziert. Bevor dieser Prozess abgeschlossen ist, werden Studien in sogenannten Preprints veröffentlicht.
„"Aufgrund der aktuell vorliegenden Studienergebnisse kann die vermutete Hemmung der angeborenen Immunantwort auf experimenteller Ebene (In-vitro-Studien) weder nachgewiesen noch ausgeschlossen werden"“
– aus dem Statement von Swissmedic.
Wylers Kritik geht in die gleiche Richtung. Bei der jüngsten Studie, die sich mit Zytokinveränderungen bei Kindern nach der Covid-19-Impfung befasst, kritisiert er außerdem die Darstellung der Daten: "Die erlaubt nicht zu beurteilen, was die Daten genau ausdrücken, weil keine einzelnen Messwerte gezeigt werden." Außenstehende könnten also nicht erkennen, ob die Auffälligkeiten zufällig oder systematisch seien. "Alles, was man sagen kann – und das schreiben die Studienautorinnen und -autoren auch selbst –, ist, dass es ein interessantes Forschungsthema ist und man mehr Studien braucht", so Wyler.
Was bedeutet das für die von Vernazza beschriebene Hemmung des Immunsystems?
Dass weiter geforscht werden muss. "Aufgrund der aktuell vorliegenden Studienergebnisse kann die vermutete Hemmung der angeborenen Immunantwort auf experimenteller Ebene (in In-vitro-Studien) weder nachgewiesen noch ausgeschlossen werden", schreibt Swissmedic. Aber sie sei aufgrund der epidemiologischen Daten unwahrscheinlich: "Aus den bisher bei Swissmedic eingegangenen über 17.000 Verdachtsmeldungen in Zusammenhang mit Covid-19-Impfungen lässt sich zudem kein Hinweis auf veränderte Laborwerte (Zytokine wie zum Beispiel Interferon) ableiten.»
So reagiert Vernazza auf die Äußerungen seiner Kollegen
Was sagt Pietro Vernazza zu der Einschätzung von Wyler und Swissmedic, dass seine Schlussfolgerung nicht zulässig sei, weil unklar sei, welche realen Effekte das tatsächlich nach sich ziehe? "Ich habe ja geschrieben, es seien zelluläre Prozesse und wir wissen nicht, was das bedeutet. Wir können aber nicht sagen, wir wissen, dass es nichts bedeutet." Er habe auch klar beschrieben, dass das Messungen seien, die im Labor aus dem Blut von Geimpften durchgeführt wurden.
„"Ich weiß nicht, ob das eine Bedeutung hat. Aber wir müssen diese Möglichkeit in Erwägung ziehen. Es ist nur eine Hypothese. Dem müssen wir nachgehen. Auf jeden Fall gibt es aber auch keine Beobachtungen, die einen relevanten Effekt beim Menschen ausschließen"“
– Pietro Vernazza, Infektiologe.
Aus Vernazzas Sicht zeigen die Studien klar, dass die Fähigkeit der Zellen, Interferon zu bilden, nach der Impfung geringer ausfällt. "Mein Fazit ist: Es haben verschiedene, voneinander unabhängige Gruppen gemessen, dass die Reaktion der Zellen auf externe Erreger nach der Impfung verändert ist. Wie wollen Sie das anders messen? Solche Prozesse messen wir üblicherweise im Blut." Das seien seit längerem bekannte, gut etablierte Methoden. "So untersuchen Spezialisten die Funktion des angeborenen Immunsystems."
Vernazza zufolge ist die Wirkung der Impfung auf die Zellen erwiesen. "Aber ich weiß nicht, ob das eine Bedeutung hat. Aber wir müssen diese Möglichkeit in Erwägung ziehen. Es ist nur eine Hypothese. Dem müssen wir nachgehen. Auf jeden Fall gibt es aber auch keine Beobachtungen, die einen relevanten Effekt beim Menschen ausschließen."