"Heute"-Kommentar zur Umfrage
EU-Wahl: Warum Kandidaten-Suche immer peinlicher wird
Die Grünen finden niemanden, bei der ÖVP will niemand, SPÖ und FPÖ schicken, was auf Lager war. Unser Umgang mit der EU wirkt zunehmend blamabel.
Orbán prahlt "Ungarn ist nicht das schwarze Schaf, sondern die erste Schwalbe. Wir warten auf die anderen". Mit einem breiten Lächeln stand Viktor Orbán auf der Bühne. Es war ein Heimspiel für ihn. Die Schweizer Weltwoche, früher ein liberales Magazin, in den letzten Jahren dann mehr und mehr ins Rechtspopulistische migriert, hatte Ungarns Ministerpräsidenten zu einem Vortrag geladen.
Warum er Zeitenwende sieht 500 Menschen saßen im Publikum, darunter der frühere tschechische Präsident Václav Klaus und der aktuelle Nobelpreisträger für Physik Ferenc Krausz. Sie erlebten einen Orbán voll strotzendem Selbstvertrauen. Seht her, versuchte er zu vermitteln, jahrelang hat mich die EU behandelt wie ein schwarzes Schaf, jetzt bin ich plötzlich die Schwalbe, Symbol eines nahenden Frühlings. Durchaus und vor allem politisch gemeint.
Kontinent rutscht nach rechts
EU wählt im Juni Der Vortrag am 22. November legte eine Stimmung offen. Rechte, rechtspopulistische und ultrarechte Parteien fühlen sich in beinahe allen Ländern in Europa, abseits von Spanien und Portugal, im Aufwind. Wie Schwalben eben. Nun soll Europa in den Zangenangriff genommen werden. In einem halben Jahr wird das EU-Parlament neu gewählt und die über die Staaten verstreuten Orbáns rechnen sich auch überregional gute Chancen aus.
Siege bei Wahlen Rechte Parteien in allerlei Abstufungen stellen jetzt schon die Regierungsspitze wie in Italien, sind an Regierungen beteiligt wie in Finnland oder der Slowakei, stützen Koalitionen wie in Schweden, siegen bei Wahlen wie zuletzt in den Niederlanden. Stellen die größte Oppositionspartei wie in Frankreich, wachsen wie die AfD in Deutschland weitgehend ungebremst. In Österreich liegt die FPÖ in Umfragen meilenweit voran.
Spott für EU Im EU-Parlament ist das rechte Lager zerklüftet und spielt eine untergeordnete Rolle. Noch! Es gibt zwei Fraktionen, dazu Orbáns Fidesz-Partei, die 2021 ihrem Rauswurf aus der Christdemokratischen Europäischen Volkspartei zuvorkam, austrat, nun eine Fraktion für sich bildet und ihren Spagat perfektionierte. Ungarn wurde von der EU jahrelang mit Subventionen zugeschüttet wie kein anderes Land. Die Subventionen, die fließen, übersteigen den Mitgliedsbeitrag um das Vierfache.
Orbán tanzt EU auf der Nase herum Gleichzeitig beschimpfte er die Union bei jeder sich bietenden Gelegenheit, stellte sich gegen ihre Entschlüsse, torpedierte Migrationspläne, traf sich mit Allgemeinfeind Putin, ist gegen weitere Hilfe für die Ukraine. All das gereicht ihm nicht zu Schaden. Im Gegenteil. Die EU ist drauf und dran, 4,6 Milliarden Euro an eingefrorenen Fördermitteln für ihn loszueisen.
FPÖ in neuer Umfrage vorn
So steht die Fahrt ins Blaue aktuell Wenn vom 6. bis 9. Juni das neue EU-Parlament gewählt wird, dann dürfen rechte Parteien mit einem Zuwachs rechnen. Laut aktuellen Umfragen mit keinem Erdrusch, aber sie werden danach deutlich stärker repräsentiert sein. Es ist ein schleichender Prozess, er vollzieht sich auch in den Gremien, vom Europäischen Rat bis zur EU-Kommission.
Große Umfrage Österreich wird da keine Ausnahme bilden und über Durchschnitt zum Zuwachs beitragen. Das zeigt die aktuelle Umfrage, durchgeführt gemeinsam von "ATV" und "Heute" und mit 1.600 Befragten auf soliden Beinen stehend. Hier geht es zu den Resultaten und den Rohdaten.
EU-Sieg für EU-Kritiker Die Ergebnisse sind ein Abbild der nationalen Situation. Die FPÖ – kurioserweise der EU gegenüber am kritischsten von allen Parteien eingestellt – liegt hochgeschätzt bei derzeit 30 Prozent, SPÖ (24 %) und ÖVP (23 %) raufen sich um Platz 2, ohne auch nur annähernd in Schlagdistanz zu den Freiheitlichen zu kommen. Eine Momentaufnahme, abgefragt noch ohne Spitzenkandidaten, aber der Moment dauert schon ziemlich lange an.
Raab als Notnagel? Noch ist nichts entschieden, aber es ist auch nichts Entscheidendes zu sehen, was zu einer Trendumkehr führen könnte. Die Parteien selbst sind noch auf Sinnsuche und die gerät immer peinlicher. Nach dem Abgang von Othmar Karas hat die ÖVP niemand Passenden mehr für die Kandidatur, kassiert laufend Absagen, die eigentlich vorgesehene Karoline Edtstadler will partout nicht. Ich habe sie vor ein paar Wochen darauf angesprochen, es kam ein vehementes "nein". Das gelte aber nicht für ein etwaiges Angebot, EU-Kommissarin zu werden, fügte sie an. Geht die ÖVP also mit Susanne Raab ins Rennen?
Die SPÖ hat sich bei der Kandidatenauswahl keinen Babler ausgerissen und schickt mit Andreas Schieder denselben Spitzenkandidaten ins Rennen wie 2019, eine Risikostreuung wie bei einer Vollkaskoversicherung. Das macht die FPÖ mit Harald Vilimsky zwar auch, aber die blaue Neigungsgruppe wählt sowieso Herbert Kickl in jedes Amt, auch in ein solches, für das er gar nicht zur Verfügung steht.
Schilling? Eher nein Die Grünen legten bei ihrer Entscheidung über die Spitzenkandidatur eine Bruchlandung hin, ohne vorher eine Rückversicherung abgeschlossen zu haben. Leonore Gewessler, die wollte oder auch nicht, sagte gestern erneut und diesmal final ab, an Ersatz hatte niemand gedacht, der eigens dafür einberufene Parteitag wurde abgesagt. Nun wird Lena Schilling als Kandidatin genannt, ich bin skeptisch. Sie hat zweifellos Talent, ist aber (momentan?) keine Nummer 1, politisch noch eher ein Leichtgewicht, das kommt alles zu früh für sie, viel zu früh.
Wer will, wer mag? Auch die Neos irrlichten. Den Pinken fehlt ebenso noch ein Kandidat oder eine Kandidatin. Nun startet am Dienstag ein öffentliches Casting für den Job, bis Weihnachten kann sich jeder und jede bewerben. Voraussetzung ist, dass die betreffende Person die Werte der Partei teile und ein "glühender Europäer" sei, sagte Generalsekretär Douglas Hoyos am Donnerstag. Helmut Brandstätter würde ausreichend genug glühen.
Wenig Interesse Fehlen noch Menschen, die zur Wahl gehen möchten. Momentan wollen nur 56 Prozent "sicher" teilnehmen. Seltsam, angesichts der Tatsache, dass immer mehr nationale Entscheidungen in Brüssel fallen. Wenn ein Politiker also das nächste Mal wieder das Bargeld in die Verfassung, auf ein Post-it oder uns ins Stammbuch schreiben will, sollte uns klar sein: Währungsfragen werden nicht mehr in Wien entschieden. Das sollten wir für bare Münze nehmen.