Österreich

Endstation Kinder-Psychiatrie: Eltern helfen Eltern

Pandemie, Pubertät und Hilflosigkeit: Die Situation in den heimischen Kinder- und Jugendpsychiatrien ist prekär. Zwei Mütter erzählen ihre Geschichte. 

Christine Ziechert
Silvia M. (r.) und Sissi W. haben Kinder mit psychischen Erkrankungen. Sie berichten über ihre Erfahrungen.
Silvia M. (r.) und Sissi W. haben Kinder mit psychischen Erkrankungen. Sie berichten über ihre Erfahrungen.
Helmut Graf, zVg

Lea (14, Name geändert) hat Narben auf ihren Armen, Beinen und am Bauch. Die hochbegabte 14-Jährige verletzt sich selbst, meist mit Rasierklingen: "Mit ein Auslöser war sicher, dass sie in der Schule gemobbt wurde", erzählt ihre Mutter, Silvia M. (49, Name geändert) im "Heute"-Gespräch über den Beginn des selbstverletzenden Verhaltens.

Mitschüler bewarfen das Mädchen damals mit Radiergummis. Dass die hochintelligente Lea schon in der 1. Volksschul-Klasse "Harry Potter" las, wollte ihr niemand glauben: "Es wurde behauptet, dass sie lügt, sich nur wichtig macht", meint Silvia M. Die damals Elfjährige begann, sich selbst zu verletzen, zusätzlich machte sie auch noch eine negative Therapie-Erfahrung.

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    21.11.2024: Für 4,90 Euro völlig ungenießbares Schulessen serviert. Die Debatte um Mittagessen und Jause in heimischen Schulen und Kindergärten kocht hoch. "Es schmeckt nicht", ärgert sich nicht nur Wienerin Daniela D.
    privat, iStock
    "Lea wollte drei Mal in der Psychiatrie aufgenommen werden, wurde aber zwei Mal abgewiesen – trotz Selbstverletzungen und Suizidgedanken" - Silvia M.

    Durch die Pandemie kam dann der absolute Tiefpunkt: "In Zeiten, wo der Freundeskreis immer wichtiger wird, wurde Lea – wie auch andere Gleichaltrige – gezwungen, alleine im Lockdown zu Hause zu sitzen." Die Depression verstärkte sich: "Lea wollte drei Mal in der Psychiatrie aufgenommen werden, wurde aber zwei Mal abgewiesen – trotz Selbstverletzungen und Suizidgedanken", erinnert sich ihre Mutter. Erst als das Mädchen in der Nacht bei einer Brücke aufgegriffen wurde und drohte, sich hinunterzustürzen, kam sie in die Kinderpsychiatrie am Rosenhügel in Wien-Hietzing.

    "Lea wurde in der offenen Abteilung untergebracht. Dort ist sie aber leider an Rasierklingen gekommen. Als sie nicht in die Schule durfte, ist die Situation eskaliert, und sie kam in die geschlossene Abteilung. Dort blieb sie eine Woche, dann wurde sie wieder entlassen und zu uns direkt nach Hause geschickt", berichtet Silvia M.

    "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass uns in dieser Zeit niemand geholfen hat. Als Mutter bzw. Eltern wirst du völlig allein gelassen – ein totales Systemversagen" - Silvia M.

    Leas Mutter erinnert sich nicht gerne an diese Zeit: "Es war eine völlige Katastrophe. Wir haben nach der Entlassung fast drei Monate auf einen Termin bei der Psychiaterin warten müssen und hatten auch keinen Therapieplatz. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass uns in dieser Zeit niemand geholfen hat. Als Mutter bzw. Eltern wirst du völlig allein gelassen – ein totales Systemversagen. Das Einzige, was mir damals geholfen hat, war das Gespräch mit anderen Betroffenen", erklärt die 49-Jährige.

    Und diese Gespräche kann die Wienerin in der neuen Selbsthilfegruppe "Sorgen teilen" nun führen. Denn – wie beide Mütter kritisieren – für Eltern gebe es nicht wirklich Unterstützung: "Der Lockdown hat großen Schaden angerichtet – bei den Jugendlichen und am System der Psychiatrien. Offenbar wurden dort etwa Elterngruppen eingespart und danach nicht wieder gestartet", bemängelt Silvia M.

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      So sieht die Stadt Shadow’s Edge aus.
      So sieht die Stadt Shadow’s Edge aus.

      Neue Selbsthilfe-Gruppe für Eltern gestartet

      Die Selbsthilfegruppe ist für Eltern gedacht, deren Kinder in der Psychiatrie sind, waren oder kurz davor stehen: "Ich möchte Eltern die Unsicherheit nehmen und offen über die Möglichkeit eines stationären Aufenthaltes in der Psychiatrie sprechen", meint Gründerin Sissi W. (37), die alle Interessierten zum nächsten Treffen am 12. Juli einlädt.

      Die Wienerin weiß, wovon sie spricht: Ihr Sohn Lukas (12, Name geändert) wurde vor zwei Jahren ebenfalls in der Kinder-Psychiatrie am Rosenhügel untergebracht: "Es hat mit Corona angefangen, beim ersten Lockdown ging es noch. Aber dann wechselte er ins Gymnasium. Es wurde immer schwieriger. Er arbeitete im Unterricht immer weniger mit, saß stundenlang mit Jacke und Haube in der Klasse, ohne seine Schulsachen auch nur auszupacken. Es fiel ihm mit der Zeit immer schwerer, die Schule überhaupt zu besuchen. Die letzten sechs Wochen bis zu den Sommerferien ging er dann gar nicht mehr", erzählt Sissi W.

      "Er hatte so eine Wut in sich. Manchmal hat er den Kopf gegen die Wand geschlagen oder die Faust gegen den Oberschenkel. Er war sehr im Widerstand und verweigerte vehement, was ihm nicht passte" - Sissi W.

      Auch zu Hause gab es immer wieder Konflikte. Lukas wurde schnell wütend und ausfallend, begann, seine Eltern zu belügen und zu bestehlen. "Auf der anderer Seite war er auch oft verzweifelt und hat viel geweint. So haben wir ihn früher nie erlebt", so seine Mutter.

      Die Familie holte sich Hilfe, den Sommer 2021 verbrachte Lukas in der Psychiatrie. Später wurde er erneut für drei Monate aufgenommen. Seine Diagnose: Depression: "Er hatte so eine Wut in sich. Manchmal hat er den Kopf gegen die Wand geschlagen oder die Faust gegen den Oberschenkel. Er war sehr im Widerstand und verweigerte vehement, was ihm nicht passte. In der Klinik meinten sie, sie hätten noch nie so ein Kind erlebt. Die erste Woche war extrem heftig, wir mussten ihn heulend im Bett zurücklassen – das zerreißt einer Mutter das Herz. Als Eltern stellt man sich an diesem Punkt die Frage, ob man mit der Aufnahme in die Psychiatrie die richtige Entscheidung getroffen hat", meint die 37-Jährige. Rückblickend betrachtet, hätte der Klinik-Aufenthalt aber sicher einen Teil zu Lukas' Genesung beigetragen und die Familiensituation entspannt.

      "Man fragt sich auch, was man als Eltern falsch gemacht hat und wie es so weit kommen konnte. Was uns in dieser Situation geholfen hätte, wäre ein Austausch mit anderen Betroffenen gewesen" - Sissi W.

      Für viele Eltern ist diese Krisen-Zeit auch von Selbstzweifeln und -vorwürfen geprägt: "Man fragt sich, was man als Eltern falsch gemacht hat und wie es so weit kommen konnte. Was uns in dieser Situation geholfen hätte, wäre ein Austausch mit anderen Betroffenen gewesen – auch um zu sehen, dass es ganz normale, liebende Eltern sind, die nur das Beste für ihr Kind wollen", erklärt Sissi W. 

      Nach seiner Entlassung kümmerten sich Lukas' Eltern um weitere Therapien und holten sich auch selbst Hilfe. Dadurch – und mit medikamentöser Unterstützung – gelang es dem Burschen, wieder in den Schulalltag und das Familienleben zurückzukehren. Heute geht es Lukas wieder gut. Der Zwölfjährige besucht eine Sportmittelschule, anfängliche Lernblockaden sind weg. Auch Lea geht es besser: "Sie hat die Therapeutin gewechselt, ist aber immer noch sehr labil und fragil", meint Silvia M. Die (fehlende) Selbstwahrnehmung ist nach wie vor Thema: "Sie beißt in eine Chili oder schmiert sich Tigerbalsam auf die Lippen, damit sie sich selbst spüren kann – ohne Narben."

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        Die App bietet in Summe 59 Einheiten aus unterschiedlichen Bereichen und enthält Videos, Informationselemente, Quizze und Übungen.
        Die App bietet in Summe 59 Einheiten aus unterschiedlichen Bereichen und enthält Videos, Informationselemente, Quizze und Übungen.
        edupression

        Im Durchschnitt 30 Suizide von Jugendlichen pro Jahr

        Laut Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni/AKH Wien, sind Suizid-Versuche bei Jugendlichen im Vergleich mit anderen Altersgruppen eher selten: "Nur etwa sechs bis acht Prozent der Jugendlichen verüben während ihrer Jugendzeit einen. In den letzten Jahren waren es etwa um die 30 Fälle/Jahr in Österreich", erklärt Plener im "Heute"-Interview. Im Vergleich dazu: Laut Statistik Austria begingen 2022 insgesamt 1.272 Menschen in Österreich Suizid, 2021 waren es 1.099. Das Durchschnittsalter betrug rund 60 Jahre.

        Wesentlich häufiger sind hingegen Suizid-Gedanken: "Etwa ein Drittel aller Jugendlichen hat an irgendeinem Punkt im Leben bereits darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen." Angesprochen auf die aktuelle Lage meint Plener: "Wir sehen in den Studien weiterhin ein sehr hohes Niveau an Jugendlichen, die über eine depressive Symptomatik und Angstsymptome berichten, das über dem Niveau der Studien vor der Covid-19 Pandemie liegt. Ebenso sehen wir weiter deutlich mehr Jugendliche nach einem Suizid-Versuch als vor der Pandemie."

        Hier finden Sie Hilfe
        Kinder- und Jugendliche
        Die Homepage bittelebe richtet sich gezielt an Kinder und Jugendliche.
        Rat auf Draht: Tel.: 147. Beratung für Kinder und Jugendliche. Anonym und rund um die Uhr. www.rataufdraht.at.
        Kindernotruf: Tel.: 0800 567 567. Der Kindernotruf ist eine 24-Stunden Telefonberatung in akuten Krisen sowie Konfliktsituationen.
        Österreichweit
        Telefonseelsorge: Tel.: 142 (Notruf), täglich 0–24 Uhr, Telefon-, E-Mail- und Chat-Beratung für Menschen in schwierigen Lebenssituationen oder Krisenzeiten. Online unter www.telefonseelsorge.at.
        Polizei: Tel.: 133, Gefahrenabwehr und Prävention bei Selbst- und Fremdgefährdung, online unter www.polizei.gv.at.
        Rettung: Tel.: 144
        Männernotruf: Tel.: 0800 246 247, Der Männernotruf bietet Männern in Krisen- und Gewaltsituationen österreichweit rund um die Uhr eine erste Ansprechstelle. Online unter www.maennernotruf.at.
        Männerinfo: Tel.: 0800 400 777. Telefonische Krisenberatung rund um die Uhr aus ganz Österreich; bei Bedarf auch gedolmetschte Beratung; anonym vertraulich, kostenlos. Online unter www.maennerinfo.at.
        Frauenhelpline: Tel.: 0800 222 555. Die Frauenhelpline gegen Gewalt bietet rund um die Uhr Informationen, Hilfestellungen, Entlastung und Stärkung – auch in Akutsituationen. Online unter www.frauenhelpline.at.
        Ö3 Rotes Kreuz Kummernummer: Tel.: 116 123. täglich von 16 bis 24 Uhr, anonym und kostenlos. Weitere Informationen finden Sie auch online unter www.roteskreuz.at.
        HPE: Beratungsstelle für Angehörige und Freunde psychisch Erkrankter, hpe.at
        Weitere Hilfsangebote unter gesundheit.gv.at/leben/suizidpraevention/betroffene/krisentelefonnummern.html

        "In akuten Krisen – vor allem, wenn es um eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung geht – ist eine Vorstellung in der Psychiatrie sinnvoll" - Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der MedUni/AKH Wien

        Nach Angaben der Österreichische Gesellschaft für Suizidprävention (ÖGS) steigt das Suizid-Risiko im Jugendalter allerdings stark an: Suizid ist die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 15 bis 24 Jahren.

        Erste Warnsignale können laut Plener Änderungen im Schlafverhalten, beim Essen oder auch ein vermehrter sozialer Rückzug sein. Eine stationäre psychiatrische Behandlung kann sinnvoll sein: "Etwa, wenn eine altersadäquate Teilnahme am Alltag – also Schule, Familie, Freunde – nicht mehr möglich ist. Auch in akuten Krisen – vor allem, wenn es um eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung geht – ist eine Vorstellung sinnvoll", rät der Mediziner.

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          Künstler Artur Bodenstein gestaltete für die neue Klinik Bilder.
          Künstler Artur Bodenstein gestaltete für die neue Klinik Bilder.
          Helmut Graf
          "Es ist gut belegt, dass das Ansprechen dieser Besorgnis suizidpräventiv wirken kann, und man sich keine Sorgen machen muss, jemanden dadurch auf 'dumme Gedanken' zu bringen" - Paul Plener, Psychiater

          Das Wichtigste ist laut Plener, achtsam für Signale zu bleiben und sich zu trauen, Jugendliche, um die man sich Sorgen macht, auch anzusprechen: "Es ist gut belegt, dass das Ansprechen dieser Besorgnis suizidpräventiv wirken kann, und man sich keine Sorgen machen muss, jemanden dadurch auf 'dumme Gedanken' zu bringen."

          Zudem gebe es kurze Suizid-Präventionsprogramme im schulischen Bereich, die bereits in Österreich getestet wurden und eine hohe Wirksamkeit haben: "Diese Programme liegen vor, es bräuchte dafür eine Finanzierung. Leider scheint die Suizidprävention offensichtlich keine Relevanz für die politisch Verantwortlichen zu haben. Entsprechende Forderungen, die schon länger seitens der Fachgesellschaften existieren, wurden bislang nicht umgesetzt", kritisiert Plener.