Front-Reportage

"Eine Welle nach der anderen" – Todeskampf um Pokrowsk

Offizier Sergej ist im Abwehrkampf um die umkämpfte Schlüsselstadt Pokrowsk involviert. Reporterin Ann Guenter hat mit ihm über die Lage gesprochen.

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    Soldaten der 59. Brigade (im Bild) liefern sich einen erbitterten Kampf mit den Russen um Pokrowsk.
    Soldaten der 59. Brigade (im Bild) liefern sich einen erbitterten Kampf mit den Russen um Pokrowsk.
    20 Minuten/Ann Guenter; 59. Brigade

    Die Einwohner nennen ihre Stadt wegen ihrer vielen Restaurants und Freizeitangebote gerne auch das "Las Vegas des Donbass". In Kriegszeiten ist Pokrowsk aber vor allem ein wichtiger Versorgungsstützpunkt für die ukrainischen Streitkräfte.

    In den letzten zweieinhalb Jahren war die Stadt im Oblast Donezk mit den einst gut 60.000 Einwohnern lange vom Krieg verschont geblieben, obgleich es punktuell russische Angriffe gab, gerade auf Hotels und Restaurants, in denen sich Soldaten und Journalisten aufhielten.

    Auch Chefreporterin Ann Guenter des "Heute"-Partnerportals "20 Minuten" aus der Schweiz war immer wieder dort. Sie berichtet nun am Donnerstag erneut über die dramatischen Entwicklungen dort. Das ist ihre aktuelle Front-Reportage:

    "20 Minuten"-Chefreporterin Ann Guenter wagte sich Anfang September 2024 auch in das ukrainisch besetzte Russen-Städtchen Sudscha.
    "20 Minuten"-Chefreporterin Ann Guenter wagte sich Anfang September 2024 auch in das ukrainisch besetzte Russen-Städtchen Sudscha.
    20 Minuten / Ann Guenter

    "Bitte nicht kommen, es ist zu gefährlich"

    Die Lage hat sich komplett verändert: Russische Truppen nähern sich Pokrowsk, sie sind nur noch wenige Kilometer entfernt. Jetzt können russische Artillerie und FPV-Drohnen Pokrowsk erreichen und die Angst vor einem Verlust dieses wichtigen logistischen Drehkreuzes wächst. Vor einigen Wochen wurden die Bewohner zur Evakuierung aufgefordert, Familien mit Kindern müssen dies zwangsweise tun.

    Ziel der russischen Truppen ist es, auf der Achse Vuhledar–Kurakhove–Pokrowsk vorzurücken, um einen Brückenkopf zu schaffen, der allenfalls für die Bewegung in Richtung der Stadt Dnipro genutzt werden kann. Noch vor zwei Wochen stieß man mit solch großer Kraft vor, dass viele in der Ukraine Pokrowsk schon verloren glaubten.

    VIDEO: Ann Guenter besuchte auch das russische Sudscha

    Doch mittlerweile ist das Offensivpotenzial in diese Richtung deutlich zurückgegangen, wie Offizier Sergej von der 59. motorisierten Infanterie-Brigade im Gespräch erklärt.

    Eigentlich wollten wir ihn und seine 59. motorisierte Infanterie-Brigade an einer hinteren Frontlinie besuchen, alles war bereits aufgegleist. Doch dann meldete sich Sergej: "Bitte nicht kommen, es ist zu gefährlich."

    "Noch nie so viele Infanteristen gesehen"

    Die Russen würden alles in den Angriff werfen, das sie zur Verfügung hätten, sagt der 56-Jährige am Telefon. "Sie setzen jetzt alle ihre Reserven ein und sind in der Offensive. Eine sehr aktive Offensive."

    Vor zwei Wochen sei es den Ukrainern zwar gelungen, den Vormarsch zu verlangsamen – auch dank der Ablenkungsoffensive auf russischem Gebiet. Doch: "Das Problem ist, dass sie eine Menge Infanterie haben. Ich habe noch nie so viele Infanteristen gesehen, die während der Invasion in der Region Donezk gleichzeitig angreifen", sagt Sergei. "Es ist eine Welle nach der anderen."

    Reisner: "Operative Pause" der Russen

    Da Russland alles in diesen Angriff stecke, fehle es aber an russischen Reservisten, so Sergei. Ihm zufolge setze Moskau zu Hause wohl auf "irgendeine Art von verdeckter Mobilisierung": "Sie geben bereits enorme Geldbeträge für ihre Rekruten aus, Beträge bis zu 2,5 Millionen Rubel (fast 25.000 Euro, Anm. der Red.), nur um einen Vertrag mit den Streitkräften zu unterzeichnen. Aber das wird die Qualität der Truppen nicht erhöhen, es wird sie nicht verbessern."

    Sergej ist Offizier der ukrainischen 59. motorisierten Infanterie-Brigade.
    Sergej ist Offizier der ukrainischen 59. motorisierten Infanterie-Brigade.
    20 Minuten/Ann Guenter; 59. Brigade

    Entsprechend ist Sergej verhalten optimistisch, dass den russischen Truppen beim Vorstoß gegen Pokrowsk trotz vereinzelter Erfolgsmeldungen der Schnauf ausgehen wird.

    Dem schließt sich Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer auf Nachfrage an. Er spricht gar von einer offensichtlichen "operativen" Pause der Russen. Der Vorstoß Richtung Pokrowsk habe merklich nachgelassen – allerdings seien an den Flanken die Gefechte unverändert hart: "Die ukrainischen Frontsoldaten melden von den Schwergewichtsräumen eine Überlegenheit des Feindes im Verhältnis eins zu zehn", so Reisner – dort, wo auch Sergejs Einheit sich der russischen Überlegenheit gegenüber sieht.

    Höhepunkt der russischen Sommeroffensive?

    "In einigen Gebieten könnte es so weit kommen, dass ukrainische Kräfte eingekesselt werden, zum Beispiel bei Niu-York und westlich von Pervomaiske." Mit Blick auf die fehlenden russischen Reservisten fügt er an: "Möglicherweise hat die russische Sommeroffensive ihren Höhepunkt aber bereits erreicht und schafft es nicht mehr, Pokrowsk einzunehmen."

    Immerhin komme es auch im Raum Charkiw fast zu einem Erliegen der Kämpfe. "Die Ukraine führt zur Verteidigung laufend neue Reserven heran. Sie hat den Vorstoß der Russen hier und bei Pokrowsk vorerst erfolgreich abgeriegelt."

    Ukraine greift Russland an: Schäden in und um die Kleinstadt Sudscha

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      Ein russischer Kriegsreporter an der Ortseinfahrt von Sudscha, Region Kursk, am 8. August.
      Ein russischer Kriegsreporter an der Ortseinfahrt von Sudscha, Region Kursk, am 8. August.
      Anatoliy Zhdanov / Kommersant Photo / AFP / picturedesk.com

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        privat, iStock

        Auf den Punkt gebracht

        • Pokrowsk ist eine wichtige Stadt für die ukrainische Logistik im Donbass
        • Sie ist zunehmend durch russische Truppen bedroht, die nur noch wenige Kilometer entfernt sind
        • Trotz einer offensiven Phase der russischen Armee mit vielen Infanteristen zeigen sich die ukrainischen Verteidiger vorsichtig optimistisch, der russische Angriff könne aufgrund fehlender Reserven ins Stocken geraten
        • Experten vermuten sogar, dass die russische Sommeroffensive ihren Höhepunkt erreicht haben könnte
        • So steht noch nicht fest, ob es den russischen Truppen wirklich gelingt, Pokrowsk vollständig einzunehmen
        red, 20 Minuten
        Akt.