Vor Ort in Sudscha
Russin "wusste nichts" von Putins Krieg gegen Ukraine
Ukrainische Truppen haben die westrussische Stadt Sudscha unter ihre Kontrolle gebracht. Wie sieht es dort aus? Eine Schweizer Reporterin war vor Ort.
Das "Heute"-Partnerportal "20 Minuten" berichtet am Montag aus der russischen Kleinstadt Sudscha, die nun schon seit Wochen unter ukrainischer Kontrolle steht. Reporterin Ann Guenter wagte sich für einen Lokalaugenschein in das besetzte Gebiet und hat mit den verbliebenen Bewohnern gesprochen. Dies ist ihre Reportage:
Reporterin in Sudscha
Wir gehen durch das Zentrum der westrussischen Stadt Sudscha – im Laufschritt, denn es droht stets russischer Beschuss. Der Krieg hat die Menschen hier ebenso brutal aus ihrem friedlichen Alltag gerissen wie in der nahen Ukraine. Letztlich sind auch sie Opfer der aggressiven Kreml-Politik geworden.
VIDEO: Ann Guenter zeigt die Situation in Sudscha
Etwa 5.000 Menschen lebten hier, bevor die ukrainischen Truppen die kleine Stadt im August einnahmen. Jetzt sind es noch einige Dutzend. Aus einem Haus quillt Rauch. Russland habe es in den frühen Morgenstunden bombardiert, sagen die ukrainischen Soldaten.
"Wir haben die Blumen nicht angerührt"
Gleich daneben liegt der Hauptplatz mit einem großen Kriegsdenkmal. Im Zweiten Weltkrieg war die Stadt während der Kämpfe mit den einmarschierenden Truppen Nazi-Deutschlands stark beschädigt worden. Jetzt liegen mehrere kaum verwelkte Blumenkränze vor dem Monument.
Die Einwohner hatten sie zum Tag der russischen Luftlandetruppen niedergelegt, den Russland jeweils am 2. August feiert. "Wir haben zusammen gegen die deutschen Nazis gekämpft. Und jetzt sollen auf einmal wir die Nazis sein. Ist das nicht verrückt?", sagt ein ukrainischer Soldat, der uns begleitet. "Aber wir haben die Blumen nicht angerührt. Wir respektieren die Menschen hier und wollen, dass sie verstehen, wieso wir hier sind."
Aus diesem Grund hängen überall im Zentrum Ausdrucke von Fotos aus der Ukraine: zerstörte Häuser, weinende Menschen, verletzte Soldaten, Flüchtlinge. Die Leute aus Sudscha sollen sehen und verstehen, was Moskau seit zweieinhalb Jahren beim Nachbarn anrichtet. Wegen der umfassenden Kreml-Propaganda sind sie sich dessen nicht unbedingt bewusst.
Tatsächlich treffen wir wenig später Natalia (49), die die Stadt nicht verlassen will. Dass Russland 2022 den Nachbarn angegriffen hat, sei ihr nicht bekannt: "Nein, nein, ich wusste nichts davon. Ich schaue nur selten Nachrichten", sagt sie und bestätigt das Stereotyp der politisch desinteressierten Russen. Dabei liegt Sudscha nur gut zehn Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt.
"Es soll in Russland wieder Frieden geben"
Als die ukrainischen Truppen sich vor einem Monat näherten, hätten russische Soldaten sie von ihrer Wohnung in diese Schule gebracht. Seither lebe sie hier. Sie sei nicht mitgegangen, als Russland Sudschas Bewohner evakuierte, denn ihre Wohnung und ihr Leben seien ja hier.
"Ich will nur, dass es in Russland wieder Frieden gibt." Dem ukrainischen Übersetzer fällt es merklich schwer, sein Gesicht nicht zu verziehen. Man spürt regelrecht, dass er die Frau am liebsten angeschrien hätte: "Und was ist mit uns in der Ukraine?"
Die ukrainischen Soldaten seien gut zu ihnen, sagt Natalia auf Nachfrage. Bei den Kämpfen um die Stadt sei sie von Glassplittern verletzt worden, und das auch noch am Hintern, sagt sie. Die Ukrainer würden sie medizinisch gut versorgen, auch Essen, Wasser und Tee würden sie bringen.
Von Außenwelt abgeschnitten
Auf einem Bett neben Natalia liegt eine alte Frau, die nicht spricht. Sie sei über 90 Jahre alt, heißt es. Niemand weiß, wo ihre Angehörigen sind, ob sie sie bei der Evakuierung zurückgelassen haben oder möglicherweise verstorben sind. Fliegen landen immer wieder auf der Alten, niemand verscheucht sie.
In Sudscha gibt es keinen Strom oder Handyempfang mehr, die Stadt ist von der Außenwelt abgeschottet. Mittlerweile haben die ukrainischen Behörden hier eine Militärkommandantur eingerichtet, welche die Aktivitäten in der Region koordiniert. Das ruft regelmäßigen russischen Beschuss auf den Plan.
"Wir sind nicht Russland"
"Die Russen bombardieren hier die eigenen Zivilisten, ihre eigene Stadt", sagt der ukrainische Presseoffizier Wadim mit Verachtung in der Stimme. "Täglich werfen sie 25 Gleitbomben auf den Distrikt Sudscha ab." Nach zwei Stunden in der Stadt drängt er die Presseleute zum Aufbruch.
Wie lange Kiew seine Soldaten in Sudscha und der Region Kursk belassen wird, ist unklar. Die ukrainische Regierung hat erklärt, das besetzte Gebiet so lange zu halten, wie es militärisch notwendig sei. Man habe aber keine Pläne für eine dauerhafte Annexion. "Wir sind nicht Russland", sagen auch die Soldaten hier.
Hintergrund
Am 6. August stießen ukrainische Truppen überraschend in die westrussische Region Kursk vor. Etwa 130.000 Menschen wurden in der Folge vertrieben.
Mit der Operation verfolgt Kiew nach eigenen Angaben mehrere Ziele: Russland soll die Region nicht als Ausgangspunkt für eine neue Offensive nutzen können und Moskaus Streitkräfte soll von anderen Gebieten abgelenkt werden.
Dazu sollen eine Sicherheitszone geschaffen und der grenzüberschreitende Beschuss von zivilen Objekten verhindert werden.
Auch sollen Kriegsgefangene gemacht und die Moral der ukrainischen Truppen und der Nation insgesamt gestärkt werden.
Die ukrainischen Truppen haben inzwischen Teile der Grenzregion im Nachbarland unter Kontrolle gebracht. Die russische Armee treibt ihren Aggressionskrieg in der Ukraine derweil ungeachtet voran: Der Osten ist trotz der ukrainischen Offensive weiter Hauptschauplatz der Kämpfe.
Ukraine greift Russland an: Schäden in und um die Kleinstadt Sudscha
Die Bilder des Tages
Auf den Punkt gebracht
- Die Stadt ist wegen Bombardements fast verlassen, ohne Strom und von der Außenwelt abgeschnitten
- Die wenigen verbliebenen Einwohner sind sich der Ursachen des Krieges scheinbar gar nicht bewusst
- Ukrainische Soldaten versuchen, ihnen die Realität zu vermitteln – etwa anhand von Fotos, die im Stadtzentrum hängen