Gelehrter packt aus

"Ukrainische Mehrheit will Ende des Kriegs, aber..."

Seit zweieinhalb Jahren führt Putin Krieg. Der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrytsak legt die Hintergründe offen, spricht über das Ende.

Roman Palman
"Ukrainische Mehrheit will Ende des Kriegs, aber..."
Jaroslaw Hyrtsak ist überzeugt, dass Putin sich nicht mit den vier annektierten Regionen zufrieden geben wird.
IMAGO/Ukrinform

Der Vorstoß der ukrainischen Armee über die Grenze in russisches Territorium ab dem 6. August sorgte international für riesiges Aufsehen. Erstmals seit 1945 sind Teile Russlands von ausländischen Soldaten besetzt, rund 1.000 Quadratkilometer rund um die Kleinstadt Sudscha. Für Kriegstreiber Wladimir Putin ist das eine "große Blamage", nimmt sich Oberst Markus Reisner in seiner jüngsten Analyse zur Kursk-Situation kein Blatt vor den Mund.

Doch warum ist die Ukraine das beträchtliche Risiko dieser Operation eingegangen, während im Donbass die russische Armee weiter – langsam, aber doch – auf dem Vormarsch ist? "Nach dem Scheitern der Gegenoffensive 2023 brauchten die Ukrainer eine Erfolgsgeschichte. Die Kursk-Offensive ist so eine", erklärt der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrytsak die Hintergründe nun in einem Interview mit der "Presse".

Kursk-Offensive knackt Putins Macho-Image an

"Dies ist ein Zermürbungskrieg, dessen Ergebnis nicht so sehr davon abhängt, was an der Front geschieht, sondern davon, wer als Erster unter der Last des Kriegs zusammenbricht", so der Publizist und Professor der Ukrainischen Katholischen Universität (UKU) in Lwiw. Entscheidend sei auch die öffentliche Moral – auf beiden Seiten: "Die Kursk-Offensive zeigt, ähnlich wie der Prigoschin-Aufstand, dass Putin nicht so stark ist, wie er vorgibt."

Gleichzeitig sei der Vorstoß auch eine "Botschaft an den Westen", die Unterstützung hochzufahren. "Gebt uns die Werkzeuge, und wir erledigen die Arbeit", erinnert der Gelehrte an Winston Churchills legendäre Rede im Februar 1941. Der bisherige "Zu wenig, zu spät-Ansatz" des Westens helfe nicht, diesen Krieg zu gewinnen.

"Demografisch gesehen erleben wir eine Katastrophe"

Die Ukraine kämpfe gerade zum dritten Mal um ihre Unabhängigkeit. Die ersten beiden Versuche während der Weltkriege scheiterten. Der US-Historiker Timothy Snyder bezeichnet die betroffenen Teile Osteuropas aufgrund der Hunderttausenden Opfer aus Krieg und Verfolgung dieser Zeiten als "Blutlande".

"Für uns ist das keine Metapher, sondern Realität. Nun ist erneut unsere Existenz bedroht. Auch was die Opfer betrifft, gibt es hohe Verluste. Zum Glück noch nicht so viele Tote, aber demografisch gesehen erleben wir eine Katastrophe", sagt Hrytsak mit Blick auf die Massenflucht vor dem russischen Einmarsch ins Ausland.

Jaroslaw Hyrtsak ist Historiker und Publizist, zuletzt erschien auf Deutsch seine "Biographie einer bedrängten Nation".
Jaroslaw Hyrtsak ist Historiker und Publizist, zuletzt erschien auf Deutsch seine "Biographie einer bedrängten Nation".
IMAGO/Avalon.red

Die Wurzeln des aktuellen Konfliktes reichen für Autor der "Biographie einer bedrängten Nation" bis zurück zum Anfang des 20. Jahrhunderts: "Wir tragen noch immer einen Konflikt aus, der mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hat. Es geht um die Frage, wer Europa dominiert." Der Sieger werde zur Supermacht aufsteigen, genau das wolle Putin erreichen.

Putin hat es seit 2008 auf Ukraine abgesehen

Geplant haben soll der Kreml-Diktator dies bereits ab dem Ende des russisch-georgischen Kriegs 2008. International starke Reaktionen waren ausgeblieben, Putin leckte Blut: "Er dachte, er kann weitermachen".

Schon damals wurden russische Pläne öffentlich, die fast zu absurd klangen, um glaubhaft zu sein: Die Ukraine sollte für ihre fortgesetzte Westorientierung bestraft und geteilt werden. "Der russischsprachig geprägte Südosten sollte an Russland gehen. Am Westen war Putin nicht interessiert, er ist für ihn zu toxisch. Die zentralen und nördlichen Gebiete der Ukraine samt Kiew wären dann ohne Schwarzmeer-Zugang und ohne bedeutende Industrie, eine Art neues Belarus, ein Vasallenstaat Russlands", skizziert Hrytsak.

Bilder: Wladimir Putin hält Annexions-Rede im Kreml

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    Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte am 30. September 2022 die ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja zu russischem Staatsgebiet.
    Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte am 30. September 2022 die ukrainischen Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja zu russischem Staatsgebiet.
    REUTERS

    2014 habe er dann versucht, diesen Plan umzusetzen. Die Massen jubelten ihm jedoch nicht zu, die Großstädte Odessa und Charkiw stellten sich nicht gegen Kiew. "Meine Illusion war, dass Putin seine Lektion gelernt hatte. Ich lag falsch", so der Gelehrte mit bitterem Blick zurück.

    "Der Große Krieg war Putins letzte Chance"

    Im Hintergrund schwingt weiter die Sowjetvergangenheit bei der Staaten mit. Die Moskauer Elite habe immer geglaubt, dass die Ukraine als souveräner Staat nicht überlebensfähig wäre, immer eng an Russland gebunden bleibe und schlussendlich zusammenbrechen werde. Es kam anders – und die Ukrainer wollten nicht zurück.

    Hrytsak: "Putin sorgte sich, dass die junge Generation keine Erinnerung mehr an die Sowjetunion haben würde. Die Empathie für Russland, selbst die der russischsprachigen Ukrainer, würde mit der Zeit schrumpfen. Die Uhr tickte. So gesehen war der Große Krieg Putins letzte Chance, sonst wäre die Ukraine für ihn verloren."

    Was genau Putin nun vorhat, ist unklar. Verfolgt er immer noch den Plan, die Ukraine von der Landkarte zu löschen? "Das wissen wir nicht". Doch sei die Ukraine sowieso nur ein Zwischenschritt für weitreichendere Ambitionen, die Russland die Dominanz in Europa sichern sollten. "Verglichen mit diesen Zielen sind vier [annektierte] Regionen nur ein kleiner Happen. Putin kann damit wohl kaum zufrieden sein." Die Zukunft werde vom Verlauf dieses Krieges abhängen: "Wir wissen nicht, wie sehr Putin noch Realist ist."

    Ukrainer wollen Frieden, aber nicht nach Putins Diktat

    Hrytsak rechnet persönlich damit, dass der Abwehrkampf gegen die Russen noch lange andauern wird: "Es auch darum, wie lang die Bevölkerung bereit ist, die Last des Kriegs zu tragen."

    Aktuellen Umfragen zufolge wolle eine Mehrheit der Ukrainer den Krieg mit Verhandlungen beenden: "Man will ein Ende des Kriegs, aber man will es zu Bedingungen, die für die Ukraine günstig sind und die den Westkurs des Landes sichern."

    Eines ist für ihn klar: "Solang Putin an der Macht ist, ist der Krieg nicht zu Ende. Wir wissen nicht, ob Russland wirklich verhandeln will, und die US-Wahlen bringen zusätzliche Unsicherheit. Aber die Ukraine bricht nicht zusammen, wir geben nicht auf, wir sind noch immer bereit, uns zu verteidigen."

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      Auf den Punkt gebracht

      • Der ukrainische Historiker Jaroslaw Hrytsak erklärt in einem Interview mit der "Presse" die Hintergründe der Kursk-Offensive und betont, dass der Krieg in der Ukraine eine große Belastung für beide Seiten darstellt
      • Er warnt davor, dass der Konflikt weiterhin andauern wird, solange Putin an der Macht ist, und dass die Ukraine nicht bereit ist, nach Putins Diktat Frieden zu schließen
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