Österreich
"Kindern wird Lebenszeit und Perspektive geraubt"
Wiens Bildungsstadtrat Czernohorszky (SPÖ) will die Schulen bereits am 4. und nicht erst am 15. Mai hochfahren. Warum er der Regierung kein Zeugnis ausstellen kann, verriet er im "Heute"-Interview.
Seit Wochen kritisiert Wiens Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ) das Vorgehen der Bundesregierung, fordert endlich konkrete Zeitpläne für das weitere Vorgehen, die von der Bundesregierung am Dienstag angekündigte schrittweise Öffnung ab 15. Mai - übrigens ein Freitag - ist ihm zu spät. Das sei man Eltern und Kindern schuldig, die derzeit unter der Unsicherheit, wie es weitergeht, massiv leiden würden. Darüber, sowie über kürzere Sommerferien und die Bildungs-Aktionen der Stadt sprach der zweifache Vater mit "Heute".
"Heute": Herr Stadtrat, wie geht es Ihnen persönlich in der Corona-Krise? Wie hat sich Ihr Alltag verändert?
Jürgen Czernohorszky: "Mir geht es gut, ich habe viel zu tun. Privat unterstütze ich meine jüngere Tochter (Anm.: besucht die Oberstufe) beim Home Schooling - wenn sie mich lässt. Wir haben unser ,Gäste-Arbeits-Fernsehzimmer' in ein Teleworking-Studio umgebaut. Und natürlich gibt es in der Familie unterschiedliche Herausforderungen. Wir haben zum Beispiel die Situation mit einem Pflegefall, bei dem die 24-Stunden-Betreuung ausgefallen ist, weil die Pflegerin nach Hause in die Slowakei gegangen ist. Wir haben Betroffenheit von Arbeitslosigkeit, haben Leute, die allein sind. Man sieht schon in seinem unmittelbaren Umfeld, wie unterschiedlich diese Coronazeit sein kann - und wie sehr es einen auch existenziell erwischen kann."
"Mein Arbeitsalltag ist völlig frei von Versammlungen. Da bemerkt man erst, ein wie großer Teil des Politikeralltags es ist, unter vielen Menschen zu sein. Und das geht mir auch wirklich ab. Mir gehen meine besten Freunde im echten Leben genauso ab, wie die Möglichkeit, mit vielen Menschen zu reden. Ansonsten ist es noch dichter geworden und etwas entgrenzt. Man ist immer erreichbar."
"Heute": Sie haben selber zwei Töchter. Wie geht es denen mit der Corona-Situation?
Jürgen Czernohorszky: "Meine Ältere ist Studentin. Die quält sich damit ab, dass die Unis nicht offen haben und die digitalen Angebote sehr unterschiedlich sind, je nach Studienrichtung. Die Jüngere ist eine Oberstufenschülerin, die braucht mich auch nicht zwingend zum Lernen. Man sieht aber, dass das derzeit für Jugendliche unglaublich schwer ist. Sie sind in einem Alter, in dem sie darauf angewiesen sind, Freunde zu treffen, zu plaudern. Die sich gerade einmal im Monat neu verlieben, etc. Man muss sich nur überlegen, wie es einem selbst in diesem Alter gegangen ist."
"Heute": Wie fordernd ist Home Schooling - für Kinder und ihre Eltern?
Jürgen Czernohorszky: "Die Home Schooling Situation für Volksschüler und ihre Eltern ist ungleich herausfordernder. Man muss einmal als Elternteil, der das Unterrichten nicht gelernt hat, einen neuen Buchstaben erarbeiten. Und jetzt rede ich gar nicht davon, dass man nebenbei noch Wohnung putzen, kochen und arbeiten gehen sollte. Und auch noch zum Psycho-Coach seiner Kinder wird, sowie selbst auch noch Bedürfnisse hat. Das ist ganz sicher zu viel, das hält niemand gut aus."
"Home Schooling ist eine riesengroße Herausforderung. Und daher ist es nicht argumentierbar und auch nicht akzeptabel, dass man in der Prioritätensetzung sagt, Golfspielen und Baumärkteöffnung gehen vor der Antwort auf die Frage, wie die Perspektive für Eltern und Kinder ist. Können Kinder davon ausgehen, dass sie heuer noch ihre Freundinnen und Freunde sehen? Wie geht es für die Lehrer weiter? Draufzahlen tun in erster Linien einmal die Frauen, weil ihnen ein Großteil dieser Lern- und Familienarbeit aufgehalst wird. Und auch die Kinder, denen Lebenszeit und Perspektive geraubt wird. Das wichtigste ist, dass man sich auf etwas verlassen kann, was kommt. Und das fehlt mir."
"Man muss sich als Bundesregierung und als Erwachsene allgemein bewusst sein, dass wir derzeit die Zukunft einer ganzen Generation ändern - und zwar sehr stark. Das tun wir natürlich immer. Aber in so einem fast existenziellen Ausmaß wie jetzt, hat das unsere Erwachsenengeneration noch nie getan. Die Experten warnen, dass diese Perspektivenlosigkeit und dieses von der Gesellschaft losgekoppelt sein, eine richtige Belastung für Kinder und Jugendliche ist. Die Folgen sind unklar. Das darf man neben Wirtschaft und Gesundheit nicht übersehen. Und da fehlt mir absolut die Schwerpunktsetzung. Es braucht klare Vorgaben. Besser gestern als heute. Richtig überwunden ist die Situation, wenn ein Impfstoff gefunden ist. Das dauert möglicherweise ein bis zwei Jahre. Auch im September wird noch nicht eitel Wonne herrschen."
"Heute": Kann man sein Kind - auch wenn man nicht in einem sogenannten systemrelevanten Beruf arbeitet - in die Schule, in den Kindergarten bringen?
Jürgen Czernohorszky: "Ja! Wenn es die Berufstätigkeit erfordert sowieso - auch, wenn einem die Decke auf den Kopf fällt, wenn man mit der Situation zu Hause überfordert ist. Das ist sogar ein besonders wichtiger Grund! Daher habe ich auch veranlasst, dass die Pädagogen in Wien proaktiv die Eltern anrufen, um eine Art Belastungsabfrage zu machen. Wenn nötig wird den Eltern dann auch gesagt, dass sie ihr Kinder lieber für ein, zwei oder drei Tage als Entlastung in die Schule schicken sollen. Das ist mir ganz wichtig und man kann sich als Elternteil darauf verlassen, dass das in Wien funktioniert."
"Das beantwortet aber natürlich nicht die Frage für die Eltern ,Kann mein Kind noch irgendwann in diesem Jahr in die Schule gehen? Und wenn nein, wie kann es dann sein, dass mein Kind trotzdem unter Notendruck steht?' Das ist aus meiner Sicht nicht in Ordnung. Da braucht es Druck rausnehmen und Klarheit. Darum bin ich auch dafür, dass heuer kein Kind sitzenbleiben soll."
"Heute": Wie ist das Feedback dieser Belastungsabfrage? Laut "Teach for Austria" sind 20 Prozent der Brennpunktschüler gar nicht erreichbar für die Pädagogen.
Jürgen Czernohorszky: Wir sind zum Ergebnis kommen, dass etwa zwei Prozent in den letzten Wochen nicht erreicht werden konnten. Das ist natürlich trotzdem zu viel. Jede Schülerin, jeder Schüler der nicht erreicht wird, ist zu viel. Deswegen ist Teil des von uns erarbeiteten Leitfadens, dass man sich mit einem Versuch nicht zufrieden gibt, es immer und immer wieder versucht. Ein Problem dabei ist aber auch die technische Infrastruktur der Schüler, gerade im NMS-Bereich. Nicht alle haben ein supertolles Arbeitszimmer, viele müssen sich das Zimmer mit ihren Geschwistern teilen oder den Computer mit der ganzen Familie teilen - wenn es überhaupt einen gibt. Wir haben daher 5.000 Laptops zum Ausleihen angeschafft, die seit Anfang der Woche in den Schulen abgeholt werden können."
"Für alle anderen Probleme arbeiten die Schulen ganz eng mit Sozialarbeitern zusammen. Wenn etwas ein Fall für die Kinder- und Jugendhilfe wird, wenn ein Kind von Gewalt bedroht oder verwahrlost ist, ist das natürlich ein klares Alarmsignal. Und da müssen wir alles tun, damit wir das auch mitbekommen. Normalerweise ist die Schule ein Rezeptor für dieses Alarmsignal. Jetzt sind die Kinder nicht auf Tuchfühlung mit den Lehrern, also müssen wir noch intensiver danach fragen und nach Signalen Ausschau halten."
"Heute": Sind Schulen und Kindergärten schon zu lange im Notbetrieb?
Jürgen Czernohorszky: "Ja, diese Phase dauert viel zu lange! Eltern werden mit der Entscheidung alleine gelassen - und ohne Perspektive. Es braucht diese Perspektive dringend. Eltern müssen wissen, was ist morgen, übermorgen und überübermorgen an den Schulen. Das Thema Bildung und Kinderbetreuung muss die höchste Priorität haben."
"Heute": Wird den Eltern zu viel abverlangt?
Jürgen Czernohorszky: "Ich habe schon ein bisserl die Befürchtung, dass die Gesellschaft als Ganzes auf Familien - und hier wieder besonders auf Frauen - als eine Art Ersatzarmee zurückgreift. Nach dem Motto ,Die schaffen das schon'. Das ist das Ergebnis einer falschen Priorisierung. Im Handel gibt es konkrete Regelungen. Solche Regelungen braucht es auch im Bildungsbereich."
"Heute": Wie würden Sie die Schulöffnung angehen?
Jürgen Czernohorszky: "Wir haben bereits vor zwei Wochen mehrere Vorschläge gebracht. Alle haben Vor- aber auch Nachteile. Zum Beispiel könnte man Schulen tageweise organisieren. Jedes Kind hat an einem bestimmten Tag Schule und damit auch Kontakt zu Lehrern. Eine andere Möglichkeit wäre, es für eine größere Zahl, aber in kleinen Gruppen zu organisieren. Eine dritte Möglichkeit ist es, bestimmte Jahrgänge anzugehen. Keines davon ist der Königsweg. Aber keinen Plan zu haben ist der schlechteste Weg. Es braucht jedenfalls ein Konzept für ein gemeinsames Hochfahren auch der Kindergärten. Es braucht klare Vorgaben, woran sich Eltern und Schüler halten können. Wir müssen uns herantasten. Dafür braucht es ein konkretes System, an das sich alle halten können. Dann probiert man es aus und nach zwei Wochen schaut man es sich an. Was inakzeptabel ist, ist, dass man es gar nicht probiert. Wir haben noch nicht einmal den ersten Schritt gemacht, das ist das Paradoxe."
"Man muss sich jetzt auf ein System einigen und rasch in die Umsetzung gehen. Es ist höchste Zeit! Die Schulen sollen jetzt laut Regierung ab Mitte Mai schrittweise hochgefahren werden. Besser spät als nie! Aber Hochfahren und genaue Pläne wären früher möglich gewesen - so heißt es weiter 3 Wochen warten, und 100e offene Fragen. Eltern, Schüler und Lehrer brauchen eine klare Perspektive."
„Es wird für kein Kind ein normales Semester mehr werden, das ist klar. Schüler müssen sich daher auf die Semesternote verlassen und nur verbessern können. Keiner darf durchfallen. Sonst benoten wir die Eltern. Wir benoten die Eltern dafür, ob sie einen Schreibtisch zur Verfügung stellen können, WLAN und einen Laptop und selber mit ihrem Kind lernen. Das halte ich für eine bildungspolitische Fehlentscheidung."
"Heute": Wie schnell könnte Wien Schulen und Kindergärten wieder hochfahren?
Jürgen Czernohorszky: "Die Pädagogen leisten bereits derzeit übermenschliches, sind Experten im Improvisieren. Ich wünsche mir konkrete Vorgaben der Bundesregierung. Wenn es diese gibt, können wir sie sofort umsetzen und alles vorbereiten. Mit 4. Mai könnte es losgehen. Wiens Schulen und Kindergärten sind bereits jetzt offen für alle, die sie brauchen. Der Bedarf ist in den vergangenen Tagen stark angestiegen. Wir stehen Gewehr bei Fuß. Man wird jedenfalls mit einer kleineren Zahl an Pädagogen starten müssen, viele zählen zur Risikogruppe und sind daher freigestellt. Aber ein Betrieb wäre theoretisch sogar ab sofort möglich, die Schulen sind besetzt und betreuen ja auch bereits jetzt eine steigende Zahl an Schülern."
"Heute": Sollen die Ferien fürs Lernen verwendet werden? Können Sie sich kürzere Ferien vorstellen?
Jürgen Czernohorszky: "Es braucht auf jeden Fall ein Bildungsangebot in den Ferien. In Wien bieten wir flächendeckend die Summer City Camps (Anm.: Anmeldung bereits möglich) an – bei Bedarf auch mit einem Lernangebot. Das wird österreichweit nötig sein. Und wenn wir es nicht schaffen Bildungsnormalität herzustellen - wonach es aussieht - dann wird man die Ferien heranziehen müssen. Man könnte das nächste Schuljahr früher und mit Schwerpunktwochen zum Nachholen in den Kernkompetenzbereichen Mathematik, Englisch und Deutsch starten."
"Heute": Welche Note würden Sie der Bundesregierung in der Corona-Krise im Fach Bildung geben?
Jürgen Czernohorszky: "Ich würde sagen, es ist schwer das Jahr abzuschließen, weil es von der Bundesregierung zu wenig Mitarbeit gibt. Wäre es ein Schulfach würde der Lehrer sagen ,Ich kann dir keine Note geben, ich hab von dir zu wenig gespürt.' Die Regierung arbeitet mit viel Energie und in enger Absprache mit den Ländern daran, das Beste zu machen. Das spreche ich niemandem ab. Es ist aber falsch, wenn man alles der Wirtschaftspolitik unterordnet. Mein dringender Appell wäre, das, was da an Mitarbeit im Bereich der Bildung gefehlt hat, dringend nachzubringen. Ich hoffe daher, dass es hier möglichst rasche konkrete Vorgaben des Ministers geben wird."