Coronavirus
Corona-Experten werden mit Morddrohungen eingedeckt
Politikerinnen, Ärzte und Infektiologinnen erhalten in der Pandemie mehr Todesdrohungen. Ein Wissenschaftler warnt vor der verheerenden Entwicklung.
Extreme Reaktionen bekommen Personen aus der Medizin und Politik in der Pandemie besonders oft zu spüren. "Per Mail wurde mir geschrieben, man müsse jemanden wie mich abschlachten", sagt Infektiologe Andreas Widmer. Ähnliches erlebt sein Berufskollege Andreas Cerny. "Seit ich mich öffentlich zur Epidemie geäußert habe, gab es immer wieder Beschimpfungen und einige wenige Drohungen im Sinn von 'Du wirst die Konsequenzen für dein Tun noch erleben'".
Heftige Reaktionen schlagen auch dem deutschen Virologen Karl Lauterbach entgegen. Diese "Spinner" müsste man "exterminieren", kommentierte jemand in Nazi-Sprech im YouTube-Format des Thurgauer Maßnahmen-Skeptikers Daniel Stricker.
„"Dafür erhalte man schon noch die Quittung"“
Auch vor Kantonsärzten und -ärztinnen in der Schweiz machen Drohungen keinen Halt. "Es geht zum Beispiel um Vorwürfe, man wolle mit Masken, Reihentests oder auch Impfungen Leute gesundheitlich schädigen und ihrer Freiheit berauben. Dafür erhalte man dann schon noch die Quittung", berichtet Rudolf Hauri, Präsident der Vereinigung der Kantonsärztinnen und -ärzte (VKS).
Post mit Drohungen erhalten oft auch Vertreter und Vertreterinnen der Politik. Einige Briefe oder Mails mit Morddrohungen seien es seit Beginn der Pandemie gewesen, sagt Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel. Besonders aggressiv verhielten sich Impf-Gegner. Auf den Inhalt der Morddrohungen wolle sie nicht genauer eingehen. In einem E-Mail, das "20 Minuten" vorliegt, schreibt ein Mann: "Volksverräter Verbrecher wie Sie es sind gehören vor den Richter, enteignet und öffentlich ERSCHOSSEN!".
Grünen-Nationalrätin Katharina Prelicz-Huber teilt die Erfahrungen. "Ich bekam schon Nachrichten, in denen mir der Tod gewünscht wurde." Drohungen von Maßnahmen-Kritikern und -Kritikerinnen hätten seit der Pandemie zugenommen. "Es ist erschütternd, wie extrem die Tonalität von Menschen geworden ist, die anderer Meinung sind."
Zahl der Drohungen fast vervierfacht
Zahlen des Schweizer Bundes bestätigen den Trend: Mit 885 Meldungen im Jahr 2020 und 246 Meldungen im Jahr 2019 hat sich die Zahl der gemeldeten Drohungen beinahe vervierfacht, wie der Jahresbericht des Bundesamts für Polizei (Fedpol) zeigt. Die Drohungen richteten sich gegen Mitglieder des Bundesrats und des Parlaments, Magistratspersonen und Angestellte der Bundesverwaltung. Etwa I.H.* setzte für die Tötung von Gesundheitsminister Alain Berset ein Kopfgeld aus.
Auch auf kantonaler Ebene schrecken Kritiker nicht vor Drohungen zurück. "Es gibt Drohbriefe gegen Berner Regierungsratsmitglieder", bestätigt Simon Koch, stellvertretender Mediensprecher des Regierungsrats des Kantons Bern. Weitere Details gibt er nicht bekannt.
„"Drohten, vorbeizukommen"“
Auf der anderen Seite stehen prominente Gesichter maßnahmenkritischer Gruppen, die ebenfalls Ziel von Drohungen sind. "Ich erhielt die ganze Palette: von alltäglichen Beleidigungen, Drohungen aus Zeitungsbuchstaben über tätliche Angriffe bis zu Morddrohungen", sagt Nicolas A. Rimoldi, Co-Präsident der Bewegung "Mass-voll!".
Etwa auf Social Media hätten Absender geschrieben, dass sie seinen Wohnort kannten, sagt Rimoldi. "Sie drohten, bei mir vorbeizukommen, sollte ich mit meiner Politik nicht aufhören." Diese Drohung habe er der Polizei weitergeleitet, worauf sich die Situation beruhigt habe.
Die Empfängerinnen und Empfänger von Drohungen verzichteten meist auf eine Anzeige. Man lasse sich nicht gleich einschüchtern, sagt Andreas Widmer. "Ganz wohl ist einem aber nicht, denn nach vielen Worten erfolgen in der Regel doch irgendwelche Taten." Auch Katharina Prelicz-Huber sagt: "Anzeige zu erstatten, heizt auf Social Media solche Menschen in ihrem Tun oft an, aber ich unterstütze jede bedrohte Person, die Anzeige erstattet." Ruth Humbel berichtet, von einer Anzeige abgesehen zu haben, obwohl ihr zu einer solchen geraten worden sei.
Lieber schweigen
Die heftigen Reaktionen führen dazu, dass manche Exponentinnen und Exponenten lieber schweigen. "20 Minuten" sind Fälle bekannt, bei denen Meinungsvertreter und –vertreterinnen für ihre Aussagen mit Morddrohungen versehen worden sind oder aus Angst davor, gar nicht erst Stellung nehmen wollten.
"Ich schätzte in der Schweiz immer die große Meinungsvielfalt. Dass versucht wird, Menschen mit Drohungen mundtot zu machen, ist jetzt auch bei uns angekommen und enttäuschend", sagt Katharina Prelicz-Huber. Sozialwissenschaftler Marko Kovic verfolgt die aktuelle Debattenkultur mit Besorgnis (siehe unten).
*Name der Redaktion bekannt
„"Für unsere Demokratie verheerend"“
Herr Kovic*, Morddrohungen gegen Amtsträgerinnen und Amtsträger nehmen zu. Manche Personen schweigen deshalb lieber. Was bedeutet das für unsere Demokratie?
Können wir keine differenzierten Meinungen mehr kundtun, ist das für unsere Demokratie verheerend. Das macht mir Sorgen. Ich hoffe, dass die Debattenkultur nach der Pandemie wieder intakt ist. Aber leider darf man nicht zu optimistisch sein.
Warum nicht?
Die Wut, die sich bei manchen Menschen angestaut hat, verfliegt nicht einfach. Auch wenn die Maßnahmen und das Impfthema nicht mehr aktuell sind, bleibt die Wut im Bauch. Das Gefühl, "vom System betrogen" zu werden, bleibt. In der Folge werden diese Menschen auch auf andere politische Themen emotional statt rational reagieren.
Lässt sich dies noch verhindern?
Irrational zu handeln, gehört zur menschlichen Natur. Aber etwa Social-Media-Plattformen verstärken dies. Sie zielen darauf ab, Menschen auseinanderzutreiben. Wir müssen unbedingt eine Diskussion über diese Plattformen führen und uns fragen, was dort eigentlich schief läuft. Auch als kleine Schweiz können wir zum Beispiel Facebook verpflichten, unsere Inhalte stärker auf Hass und Drohungen zu überwachen. In den Schulen sollte den jungen Menschen das Werkzeug mitgegeben werden, um sich diesem Sog von Hass und Drohungen entziehen zu können.