"Kein Mensch kommt zur Welt und will in Armut leben", sagt Daniela Brodesser zu "Heute". "Bis zur Geburt meines jüngsten Kindes waren wir eine typische Durchschnittsfamilie", erzählt die 50-Jährige.
Dann kam ihr Kind mit einer schweren Lungenerkrankung auf die Welt und Brodesser musste bald am eigenen Leib erfahren, wie es ist, in Armut zu leben.
"Ich war gezwungen, meinen Job als Bürokauffrau aufzugeben, um mein Kind pflegen zu können", erzählt sie. "Mein Mann war musste dadurch, mehr und mehr zu arbeiten. Doch mit nur einem Einkommen fehlten unserer sechsköpfigen Familie bald alle Mittel."
Kurz darauf schlitterte Brodessers Mann in ein Burn-out: "Ich wusste nicht mehr weiter. Wir waren plötzlich arm. Dass uns so etwas passieren kann, hätte ich nie gedacht", erzählt sie.
Für Brodesser beginnt ein Teufelskreis aus fehlender Teilhabe, Rückzug und Beschämung: "Weil wir kein Geld hatten, war auch mein Sozialleben nach und nach verschwunden", sagt sie und fügt an: "Wut, Scham, Angst. Irgendein Ventil musste ich finden."
Brodesser beschließt einen anonymen Account auf der Plattform Twitter anzulegen, nennt sich dort "Graue Maus" und beginnt sich ihr Leid von der Seele zu schreiben. Tausende Reaktionen folgen. Es sind Menschen, denen es auch so geht. Das war 2017.
"Ende des Sommers werden es acht Jahre, seit ich begonnen habe, über Armut zu sprechen", erinnert sich Brodesser im Gespräch mit "Heute". Nachdem das Netz auf sie aufmerksam geworden war, bot man ihr landesweit Interviews an, 2023 veröffentlichte sie ihr erstes Buch. "Über Armut wisst ihr nichts", lautet darin eine wütende Feststellung.
"Was Armut bedeutet, kann sich kaum jemand vorstellen, der nicht irgendwie einmal davon betroffen war", sagt Brodesser, die heute kein Synonym mehr für ihren Namen benutzt. An der Pädagogischen Hochschule in Graz unterrichtet sie Kindergartenpädagogen darin, Kinderarmut zu erkennen.
Ein Blick in die Zahlen bestätigt, wie wichtig das mittlerweile geworden ist: Die Caritas schreibt auf ihrer Webseite, dass rund 20 Prozent der Kinder in Österreich in Armut aufwachsen.
Die Volkshilfe spricht von 376.000 Kinder und Jugendliche, die armuts- und ausgrenzungsgefährdet sind, insgesamt seien aktuell mindestens "1,5 Millionen Menschen in Österreich armutsgefährdet".
In Niederösterreich sind mittlerweile über 236.000 Menschen von Armut betroffen, schreibt das Armutsnetzwerk NÖ. Das sind 14 Prozent der Bevölkerung – Tendenz steigend.
"Egal wo in Österreich, über die tägliche Herabwürdigung von Armutsbetroffenen wird gar nicht diskutiert", sagt Daniela Brodesser und wird dabei bestimmt. Klischees über arme Menschen gäbe es dafür unzählige, auf der Basis von Fakten werde fast nie gesprochen:
"Armutsbetroffene wollen nicht arbeiten, können mit Geld nicht umgehen oder geben ihr Geld falsch aus. So lauten die Vorurteile vieler Menschen – oft solche, die selbst nie davon betroffen waren. Die öffentliche Meinung ist davon durchzogen. Dabei ist Armut für keinen Menschen ein Lebensziel."
Brodesser kann als Expertin ad hoc weitere Zahlen aufzählen: "31 Prozent der Sozialhilfebezieher in Österreich sind Kinder und Jugendliche, 9 Prozent in Pension. Nur ein Drittel, exakt 32,9 Prozent ist überhaupt im erwerbsfähigen Alter, viele davon aber chronisch krank. Sie werden hin- und hergeschoben zwischen ÖGK und AMS."
Der ständige Druck, dem diese Menschen ausgesetzt seien, sei enorm. Psychische Erkrankungen können die Folge sein.
Erst kürzlich hat die Oberösterreicherin, die mittlerweile als Expertin auf ihrem Gebiet gilt, mit Mitstreitern den sogenannten "SoliTank" gegründet – einen Solidaritäts-Thinktank zur Armutsbekämpfung.
"Was passiert, wenn Menschen unter solchen Bedingungen ihr Leben bestreiten müssen?", möchte "Heute" von Brodesser wissen.
"Es gibt zwei Arten, wie Menschen auf die ständigen Herabwürdigungen reagieren", sagt Brodesser: "Betroffene ziehen sich zurück, oder legen sich einen Schutzpanzer zu. Gerade bei Kindern wird das deutlich, wenn sie zum Beispiel bei Schulausflügen angeben, gar nicht mitfahren zu wollen, weil sie genau wissen, dass sich die Familie das nicht leisten kann."
Oft seien auch ältere Menschen von Armut betroffen, die das AMS, knapp vor der Pension, in die miesesten Jobs stecken wolle. Teils dauere es Monate, bis Betroffene überhaupt einen Bescheid über mögliche Hilfeleistungen bekommen, erzählt Brodesser. Der SoliTank helfe ihnen dann mit der finanziellen Überbrückung: "Die Leute sollen einmal etwas durchatmen können", sagt sie.
Dann erzählt Brodesser von einem 55-jährigen Mann, der auf einem Bauernhof groß wurde, keinen Schulabschluss machen durfte, deshalb eine irrsinnige Angst vorm Lernen hat, aber sein ganzes Leben äußerst hart gearbeitet hat, bis er schließlich schwer krank wurde: "Wie soll so jemand wieder auf die Beine kommen? Man kann nicht jeden Menschen einfach in Maßnahmen pressen", argumentiert sie.
Brodessers SoliTank-Team besteht aus Menschen, die Armutsbetroffene waren. Sie begleiten aktuell Betroffene zu Sozialhilfeeinrichtungen. Alleine neun Personen befänden sich aktuell in der Überbrückung, die mit privaten Spenden organisiert wird. Dabei gibt es aber ein Problem:
"Wer in Österreich Sozialhilfe beziehen möchte, darf keine Spenden bekommen. Die Behörden können solche Zuwendungen von der Sozialhilfe abziehen, auch wenn Betroffene dadurch ihre Miete nicht mehr decken können und wir zuvor alles erklären", sagt Brodesser.
Sie klingt dabei entrüstet: "Im Fall einer Wohnkaution blieb uns nur über, das Geld direkt an den Vermieter zu überweisen, weil der Betroffene sonst keine Aussicht auf Sozialhilfe gehabt hätte."
Die Menschen wüssten oft nicht mehr, wie sie sich ihr Dach über dem Kopf noch leisten können, sagt Brodesser: "Mit erstem April wird viele weitere Menschen treffen, insbesondere auch in Niederösterreich. Denn ab sofort gibt es keinen Sperrstopp bei Strom- und Heizkosten-Rückständen mehr."
Das bedeute, dass man Menschen einfach den Strom und die Heizung abdrehen könne. "Diese Menschen können sich bei uns melden", sagt Brodesser.
Schon jetzt bekommt der SoliTank Tag für Tag Erfahrungsberichte von Armutsbetroffenen aus ganz Österreich zugesandt. Für die kommenden Monate hat das Team um Brodesser außerdem österreichweit offene, kostenlose, Diskussionsrunden, in Form von "Runden Tischen" geplant.
Den Auftakt dazu bildet das Online-Treffen "Wie Sprache die Armutsbekämpfung beeinflusst" am 23. und 25. April.
"Derzeit schicken uns jeden Tag drei Menschen ihre Schicksale", sagt Daniela Brodesser zu "Heute" und fügt an: "Wir wollen mit den Menschen im Austausch bleiben und gemeinsam mit ihnen darum kämpfen, dass endlich mehr gegen Armut getan wird. Denn, Armut ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem."
Zu diesen Themen plant der SoliTank offene "Runde Tische":
Die folgenden Informationen werden laufend auf Webseite aktualisiert.
23. & 25. April 2025 – online
Wie Sprache die Armutsbekämpfung beeinflusst
16. & 18. Juni 2025 – online
Hürden und Abwertung bei Behörden
September 2025 (in Planung) – Graz
Armut und Psyche
Oktober 2025 (in Planung) – Niederösterreich
Chronische Erkrankungen und Armut
November 2025 (in Planung) – online
Wirtschaft und Armut